Fairplay 111 – Rezension: Arler Erde

Friesisch herb

ARLER ERDE ist kein Ostfriesenwitz. ARLER ERDE ist ehrliche Arbeit: Den Blanken Hans im Angesicht, das düstere Moor im Rücken, trotzen zwei Spieler diesem rauen Land ihre Lebensgrundlage und ein Stück Wohlstand ab. Dazu ist ARLER ERDE eine schöne Geschichtsstunde zu Ostfriesland: Es bildet die Sorgen und Nöte der ostfriesischen Bevölkerung zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ab. In dieser Zeit war im Dorf Arle ordentlich was los; das Spiel dokumentiert den einige Jahrzehnte währenden Erfolg der dortigen Stoffproduktion. Uwe Rosenberg hat die historischen Grundlagen akribisch recherchiert und all die Details und Hintergründe, die er naturgemäß nicht in ein Spiel packen konnte, in ein lesenswertes 36-seitiges Begleitheft gepackt unter dem Motto „Skurril wie ein Ostfriesenwitz“.

ARLER ERDE ist anspruchsvolle Kost. All diejenigen, die Uwe Rosenbergs Aufbauspiele wie AGRICOLA, LE HAVRE oder ORA & LABORA nicht mögen, können den Karton getrost ignorieren. Die Rosenberg-Fans kommen voll – auch im Hinblick auf das Material – auf ihre Kosten: ARLER ERDE ist ein Rosenberg in Idealform! Man produziert verschiedene Arten von Rohstoffen und veredelt sie, man verbessert seine Fertigkeiten, entwickelt Landschaften, errichtet Bauwerke und reist. Und nicht zu vergessen: Natürlich wollen zum Ende jeder Runde die eigenen Leute ernährt werden und sich am warmen Torffeuer wärmen. Im fortschreitenden Spiel steigen durch wachsende Handwerkskunst, neue Gerätschaften, Ackerbau, Viehzucht und neue Gebäude die eigenen Möglichkeiten. Die Zahl der Aktionen der Spieler bleibt aber in jeder der neun Runden gleich, man darf stets vier Arbeiter einsetzen. Durch neu gekaufte Fuhrwerke, die Reisen und Rohstoffveredlung erlauben, gibt es aber neben den Arbeiteraktionen im weiteren Verlauf doch immer mehr zu tun.

Auf den ersten Blick wirkt dieses Spiel wie ein Solitär, das man auch zu zweit spielen kann. Und tatsächlich ist ARLER ERDE in der Solitärvariante fast so gut wie mit dem Mitspieler. Die Zweiervariante bringt Konkurrenz ins Spiel, die zusätzlich belebt: Denn jede Aktion kann pro Runde nur von einem Spieler genutzt werden. Man wird dem Mitspieler nur in Ausnahmefällen eine Aktion kaputt machen, denn dazu sind die Aktionen zu kostbar. Somit ist ARLER ERDE auch ein friedliches Spiel. Da aber viele der Aktionen für beide Spieler gleichermaßen interessant sind, so kommt man sich zwangsläufig in die Quere.

Die Besondere an ARLER ERDE ist, dass hier Jahreszeiten abgebildet werden: Jedes Sommerhalbjahr verfügt über andere Aktionen als das Winterhalbjahr. Im Sommer-/Herbsthalbjahr legt der Friese Moore trocken, baut Deiche, pflanzt Felder und Wälder an, fällt Holz und baut Lehm ab, er fischt und verarbeitet die Wolle, die er im Winter schor. Am Ende des Halbjahrs werfen Felder und Wälder Rohstoffe ab und für Schafe und Kühe werden für etwas Nahrung gemolken. Dann muss man aber auch Vorräte und Heizmaterial in Form von Torf für den kommenden rauen Winter abgeben.

Im Winter-/Frühjahr kann man schlachten, backen, die von den Tieren gewonnenen Häute zu Leder gerben und den im Sommer geernteten Flachs zu Leinen weben. Darüber hinaus blüht der Handel: Tiere, Holz oder Baustoffe werden herbeigeschafft. Am Winterende steht die Schafschur an, außerdem vermehren sich je zwei Tiere, sofern sie gemütlich in einem Stall stehen. Auch am Winterende muss wieder Nahrung abgegeben werden, das Torffeuer darf aber verlöschen, denn im Sommer ist es warm genug für den Friesen.

Zu diesen Jahreszeit-typischen Aktionen gibt es in jedem Halbjahr Aktionsmöglichkeiten, um die handwerklichen Fähigkeiten zu verbessern und zum Bau von Gebäuden und Fuhrwerken. Wenn man unbedingt eine Aktion machen will, die der Mitspieler einem vor der Nase wegschnappte, gibt es darüber hinaus den einmal pro Halbjahr wählbaren „Nachahmer“. Ebenfalls einmal pro Halbjahr darf ein Spieler genau eine Aktion des anderen Halbjahrs nutzen. Wer dies tut, der überlässt dem Mitspieler den Startspielerstein für das nächste Halbjahr. Geht keiner Jahreszeiten-fremd, so wechselt der Startspieler am Rundenende. Drum kann der Spieler, der in der aktuellen Runde der Startspieler ist, gefahrlos die Aktion der anderen Jahreszeit machen – er verliert damit ja keinen Startspielervorteil.

Insbesondere der Fuhrpark sowie der Torfkahn erlauben den Spielern darüber hinaus Aktionen, ohne Arbeiter einzusetzen. Mit dem Torfkahn tauscht man jederzeit Torf gegen andere Waren ein. Die verschiedenen Fuhrwerke können einerseits genutzt werden, um die Baustoffe Holz und Lehm in die höherwertigen Bauholz und Ziegel zu veredeln. Ebenfalls kann man die drei „Rohtextilien“ im Spiel aufwerten: aus Leder, Wollstoff und Leinen werden Leder-, Winter- bzw. Sommerkleidung. Legt man diese Materialien während einer Jahreszeit auf einen Wagen, so nimmt man sie am Ende der Jahreszeit in der veredelten Form wieder von ihm herunter. Und warum macht man dies? Veredelte Materialien bringen mehr Siegpunkte ein, und die veredelten Baustoffe benötigt man für viele Bauprojekte.

Der andere Einsatzzweck der Wagen sind Reisen in verschiedene, teils nahe, teils weiter entfernte Orte in Ostfriesland. Wen es besonders weit treibt und wer dazu noch ein großes Fuhrwerk besitzt, der kann bis nach Bremen reisen. Beim Beladen der Wagen bemerkt man die feinen Details des Spielmaterials: Die Wagen sind unterschiedlich groß, wie auch die Rohstoffe, Textil- und Reiseplättchen. Die kleinsten und billigsten Karren können nur Baumaterialien veredeln, die größeren Wagen – für deren Kauf man aber auch Pferde als Zugtiere abgeben muss – nehmen auch einen Ballen Rohtextilien. Aber nur die beiden größten und teuersten Wagen schaffen es bis nach Bremen – oder fassen zwei Ballen Leinen.

Eine Reise ist auch für den Ostfriesen nicht nur lustig und schön, er unternimmt sie vor allem aus zweierlei Gründen: Um am Reiseziel geforderte Waren, oft Tiere, Waren und Stoffe, in Nahrung umzuwandeln. Dann wandert das Reiseplättchen auf den Wagen und am Rundenende auf die Reiseleiste, die Siegpunkte bringt. Wer alles bereist hat, dem winken am Schluss zehn Punkte. Die ersten drei Punkte sind leicht erreicht, um an zehn Punkte zu kommen, muss man aber viel Zeit und auch Platz auf den Wagen investieren. Die Siegpunkte allein machen das Vielreisen somit nicht attraktiv – da gibt es leichtere Wege.

Auf diese unterdimensionierten Siegpunkteinnahmen eingesprochen, verweist Autor Uwe Rosenberg auf einen anderen Aspekt: Vielreisende haben es auf die Nahrung abgesehen, die man in der Tat über Reisen in großem Stil einheimsen kann. Diese Nahrung kann zwar von meinen Arbeitern bei weitem nicht aufgefuttert werden, sie wird aber gebraucht, um die besonders siegpunkteträchtigen Gebäude wie die Arler Kirche oder das „Haus Waterkant“ zu kaufen. Wer diese Strategie fährt, besitzt mehrere große Wagen, um neben den Reisen (für Nahrung) auch Platz für die Veredlung von Baumaterialien zu haben.

Aber diese Baustrategie ist nur einer von vielen Wegen, um sich dem Spiel und dem Sieg zu nähern. Diese vielen Wege, unter denen ich noch keine sichere Siegesstraße gefunden habe, machen den sehr hohen Wiederspielwert aus. Man kann bei jeder Partie wieder etwas anderes ausprobieren: Man kann auf die Tierzucht setzen, braucht dafür vor allem Ställe bzw. die wertvolleren Doppelställe oder Stallungen. Trickreich ist hierbei, dass man möglichst alle drei Tierarten gleichmäßig züchten sollte, denn die Art mit den meisten Tieren bringt gar keine Punkte, die mittlere einen und die Art mit den wenigsten Tieren zwei Punkte pro Viehstück. Ein anderer Weg ist die massenhafte Textilproduktion: Hierfür pflanzt man viel Flachs und züchtet Schafe (für die Wolle) und andere Tiere (für das Leder nach der Schlachtung). Zusätzlich entwickelt man sich handwerklich in den Bereichen, die einen höheren Textilausstoß bringen. Darüber hinaus sind auch hier mehrere Wagen hilfreich, mit denen die Rohtextilien veredelt werden. Wer noch intensiver auf das Handwerk setzt, punktet ordentlich bei voll entwickelten Handwerksleisten. Und auch der Landschaftsentwickler wird nicht leer ausgehen: Zuerst vermeidet er Minuspunkte für nicht urbar gemachte Moorfelder und für nicht eingedeichte Felder, und zum anderen kann er Wälder aufforsten, die nicht nur Holz bringen, sondern die sich am Schluss auch in punktestarke Parks umwandeln lassen.

Mich hat bisher jede Partie ARLER ERDE gefesselt: Selten habe ich ein Spiel gehabt, bei dem Thema und Mechanismus so gut und logisch zusammenpassen. Wie intensiv Uwe Rosenberg allein für den historischen Hintergrund recherchiert hat, berichtet er im Interview. Spielerisch gibt ständig etwas zu überlegen, so dass einem nie langweilig wird. Von Partie zu Partie kann man immer wieder neu überlegen, welches ein noch erfolgreicher Weg zum Sieg ist.

Wenn ich mal keinen Mitspieler finde, so spiele ich solo: Hier fehlt lediglich die Option, „Jahreszeiten-fremd“ zu gehen. Mit etwas Übung dauert eine Solopartie unter einer Stunde, und ein Zweierspiel ist in eineinhalb Stunden gemeistert. Hinzurechnen muss man allerdings die Aufbau- und Aufräumzeit, die bei der Menge an Material nicht zu unterschätzen ist. Solo spiele ich dann doch gleich noch eine zweite Runde…

Das Spielmaterial habe ich schon erwähnt: Es macht einfach Spaß, ARLER ERDE auf dem Tisch zu haben. Den Reiz machen die vielen Details aus: die schwarzbunten Kühe und die vielen kleinen netten Details in den Illustrationen von Dennis Lohausen, die es zu entdecken gibt. Die Regel lässt keine Frage offen und ist gut und nachvollziehbar aufgebaut. Und wer mehr Details zu den verschiedenen historischen Spielelementen wissen möchte, der greift zum Begleitheft.

Nur ein Manko hat ARLER ERDE: Ostfriesen sind aus irgendeinem Grunde klar im Vorteil. Wie kann es sonst sein, dass ich gegen meine Frau Elke – gebürtige Auricherin (woher auch Uwe Rosenberg stammt) – im Schnitt nur eine von vier Partien gewonnen habe. Dies spricht gegen Uwes These „Frisia non ludet“ (siehe Interview), wenn Nicht-Friesen – selbst wenn sie 50% Küstenblut haben wie ich – so abkacken.

Arne Claussen

Uwe Rosenberg: ARLER ERDE für 1 – 2 Personen mit Illustration von Dennis Lohausen bei Feuerland Spiele 2015, Spieldauer 60 – 120 Minuten

Interview mit Uwe Rosenberg

FAIRPLAY: In Arle, einem Ortsteil der Gemeinde Großheide im ostfriesischen Landkreis Aurich, leben heute knapp über 1000 Menschen. Uwe, warum ist gerade dieser kleine Flecken zum Mittelpunkt Deines neuen Spiels ARLER ERDE geworden?

Uwe Rosenberg (UR): Ich habe einen Teil meiner familiären Wurzeln dort, mein Vater stammt aus Arle. Und auch die Familie von Frank Heeren – meinem Partner bei Feuerland Spiele – stammt ganz aus der Nähe, aus Schweindorf.
Aber das ist nur ein Grund. Vor allem war Arle zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Textilort, von hier stammte der beste Flachs in ganz Norddeutschland. Für einige Jahrzehnte pulsierte damals das Dorfleben, bevor der Flachsanbau mit dem verstärkten Import von Baumwolle seinen Niedergang erlebte. Hinzu kam die Schafzucht, die schon zu Zeiten Karl des Großen als Wolllieferant bedeutend war. Und wenn man die Produktion der Textilien dann noch mit Elementen der Landgewinnung – Arle war früher ein Küstenort –, der Urbarmachung der umgebenden Hochmoore und dem Handel verknüpft, hat man viele Elemente, die ein spannendes Spiel mit vielen möglichen Entwicklungsmöglichkeiten ergeben können.

FP: ARLER ERDE ist ein komplexes Aufbauspiel für zwei Personen, bei dem Produktionsketten ineinander greifen. Diese Motive kennen wir schon anderen Deiner Spiele. Aber was war das besondere Grundmotiv bei der Entwicklung dieses neuen Spiels?

UR: Ich wollte etwas machen, das mit zwei unterschiedlichen Jahreszeiten arbeitet. Im Sommer und im Winter sollten die Spieler grundlegend andere Aktionsmöglichkeiten haben. Hier drängt sich die Textilherstellung in Arle geradezu auf: Im Sommer wächst der Flachs für die Leinenproduktion, im Winter setzen die Schafe Wolle an, die zum Winterende geschoren und im Sommer verwoben wird.
Die ursprüngliche Idee zu einem Spiel mit zwei solchen Skalen stammt übrigens von Julian Steindorfer, der früher schon zu zwei kleinen AGRICOLA-Erweiterungen beigetragen hat. Letztlich hat es seine Idee dann aber doch nicht bis ins endgültige Spiel gebracht.

FP: Neben dem opulenten Spielmaterial enthält der Karton ein ausführliches Heft über die ostfriesische Historie. Wie kam es dazu?

UR: ARLER ERDE war in mancher Hinsicht ein Familienprojekt. Ich habe, zum großen Teil zusammen mit meinem Vater, viel recherchiert. Wir haben Bibliotheken und Archive durchstöbert und Ostfriesland bereist. Dabei haben wir auch entfernte Verwandte wieder entdeckt, besucht und befragt. Neben viel Familiengeschichte entstand daraus eine große Sammlung zur ostfriesischen Geschichte. Den Schatz wollte ich nicht brach liegen lassen, also habe ich ihn als Begleitheft ins Spiel aufgenommen.
Manches ist auch in das Konzept des Spieles eingegangen, etwa einige familienhistorische Bezüge. Zum Beispiel das Textilhaus Kanngießer in Aurich, welches vom Großvater meiner Mutter gegründet wurde und lange von meinen Eltern geleitet wurde. Es passt zwar nicht in die Zeit, in der ARLER ERDE spielt, aber es musste einfach rein.

FP: Mit Frank Heeren und Dir kann man Feuerland Spiele sicherlich einen ostfriesisch-stämmigen Verlag nennen. Ist Ostfriesland insgesamt ein Spielerland?

UR: Es stimmt, bei Feuerland Spiele hat sich ein großer Teil unserer früheren Auricher Spielerrunde versammelt. Doch wir leben inzwischen alle woanders, alle haben nach der Schulzeit Ostfriesland verlassen. Insgesamt gilt leider: „Frisia non ludet“ („Friesland spielt nicht“) – angelehnt an den bekannten Spruch „Frisia non cantat“ („Friesland singt nicht“). Die ostfriesische Spielerszene ist nicht sehr stark, auch wenn sich rund um den Spieleladen in Leer einiges tut. In anderen Städten wie Emden und Aurich ist leider nicht viel los. Ich fürchte, auch ARLER ERDE wird daran nicht viel ändern.

FP: Ist ARLER ERDE der Auftakt zu einer Ostfriesland-Serie bei Feuerland Spiele?

UR: Das würde ich mir wünschen. Ideen für ein Spiel, bei dem jeder eine Insel bewirtschaftet, habe ich. Die Spieler sammeln auf dem Festland Erfahrungen, die sie dann auf der Insel umsetzen. Ein zweites Spiel liegt mir von einem Autorenpaar vor, bei dem man seine Schäfchen vor der Sturmflut schützt.