Fairplay 142 – Rezension: Next Station London

Bunte Linien auf Papier

Ein Roll & Write, in dem man Strecken plant – das ist wirklich keine neue Idee: RAILROAD INK, TRAILS OF TUCANA und VOLL VERPLANT sind drei bekannte Beispiele dieses Genres. Brauchen wir wirklich noch ein Spiel dieser Art?

Die große Neuerung bei NEXT STATION: LONDON liegt in der Anzahl der Strecken. Im Spielverlauf zeichnen wir nacheinander vier eigenständige Linien mit Buntstiften in einen abstrakten Londoner Stadtplan. Dabei planen wir das Netz für die Underground, wie die Londoner U-Bahn traditionell heißt, in einem Raster aus Stationen und möglichen Verbindungslinien. Sie verlaufen horizontal, vertikal und diagonal auf unserem persönlichen Blatt und erleichtern uns die Planung im Großstadtgewirr. Wer seine Underground-Linien in diesem Labyrinth besonders geschickt plant und so die meisten Punkte sammelt, gewinnt.

Zwar zeichnet jeder auf einem identischen Blatt, dennoch ist das Spiel asymmetrisch. Denn in jeder der vier Spielrunden zeichnen alle in einer anderen Farbe. Mit jeder Farbe verbunden ist auch ein individueller Startpunkt. Später führen wir unsere Strecke im Normalfall am Anfang oder am Ende der vorliegende Linie fort. Da wir unseren Stadtplan über vier Runden befüllen und zwischen den Runden die im Spiel enthaltenen Farbstifte tauschen, besteht am Ende jedes Streckennetz aus vier Linien in den Farben Pink, Grün, Blau und Lila.

NEXT STATION: LONDON in der Fairplay Nr. 142

Genau genommen ist NEXT STATION: LONDON wie auch zwei der anfangs genannten Spiele ein Flip & Write. Statt Würfeln zeigen Spielkarten, wohin wir unsere Strecken führen dürfen. Die Bahnhöfe auf unserem persönlichen Plan sind wie die Spielkarten mit einem von vier Symbolen – Dreieck, Quadrat, Fünfeck oder Kreis – markiert. Unter den Karten gibt es außerdem einen Joker, der uns erlaubt, frei zu wählen, zu welchem der umliegenden Bahnhöfe wir zeichnen. Der Kartenstapel besteht aus fünf rosa und sechs blauen Karten, die jeweils eines der vier Symbole oder das Jokerzeichen tragen. Die sechste blaue Karte zeigt das Symbol für eine Weiche. Decken wir sie auf, ziehen wir zusätzlich die nächste Karte und dürfen nun zu diesem Symbol auch von einer Station in der Mitte unserer Strecke abzweigen. Pro Runde spielen wir den kleinen Kartenstapel einmal solange durch, bis wir die fünfte rosa Karte aufdecken. So decken wir theoretisch jedes Symbol mindestens einmal, maximal zweimal pro Runde auf. Nicht selten müssen wir unsere Strecke früher beenden, als uns lieb ist. Das geht dann aber allen so.

Die perfekte Verbindung finden

Damit wir ausreichend Punkte sammeln, müssen wir viele Dinge im Blick behalten. Das Blatt ist unterteilt in 13 Abschnitte. Die Hauptpunkte erhalten wir dadurch, dass wir gleichzeitig möglichst viele Stationen in einem Abschnitt anschließen und möglichst viele verschiedene Abschnitte erreichen. Denn diese Werte multiplizieren wir und addieren dazu weitere Punkte für jeden Streckenabschnitt, der die Themse kreuzt. Sie fließt als dicke blaue Linie quer über unser Blatt. Punkte erhalten wir am Spielende auch für Umsteigemöglichkeiten, also Stationen, an denen sich verschiedenfarbige Linien treffen, und für Touristen-Stationen, die auf dem Plan besonders gekennzeichnet sind.

Der Reiz des Spiels liegt darin, nach der perfekten Verbindung zu suchen. Welchen Bahnhof in welchem Stadtviertel möchte ich anfahren? Kreuze ich lieber die Themse oder fahre ich eine Touristen-Station an? Und sind die Punkte, die ein Umstieg bringt, es wert, dass ich anschließend weniger Optionen habe, andere Bahnhöfe anzufahren? Dabei ist es immer auch sinnvoll, sich die bereits aufgedeckten Karten zu merken und wahrscheinlich noch folgende Optionen einzukalkulieren.

Diese vielen Möglichkeiten, wichtige Punkte zu sammeln, ebenso wie der auf den ersten Blick etwas erschlagende Spielplan sind eine kleine Hürde, besonders für Kinder und Gelegenheitsspieler. Gerade bei den ersten Partien mit jüngeren Spielern ist deshalb etwas Hilfe sinnvoll. Das es anfangs schwierig ist, liegt an der steilen Lernkurve, die das Spiel bietet. Wer Anfänger ist, macht nicht viele Punkte. Gleichzeitig macht es aber ungeheuren Spaß, wie die eigene Punktzahl über die ersten Partien hinweg immer weiter ansteigt, während man einen Blick für anfahrbare Stationen und günstige Streckenführung entwickelt. Schafft man anfangs vielleicht nur knapp unter 100 Punkte, sind nach einer Weile in gut laufenden Runden auch mal mehr als 150 Punkte möglich.

Bonusziele durch Mini-Erweiterung

Wer eine hohe Punktzahl erreichen will, sollte sich vom Gedanken frei machen, einen besonders schönen Plan für die Londoner Underground zu entwickeln. Ich hoffe inständig, dass niemand jemals ein U-Bahn-Netz so plant, wie ich meine Strecken in NEXT STATION: LONDON. Da verlaufen Linien im Zickzack verschlungenen mit anderen Linien, während manche Bezirke gar nicht ans Netz angeschlossen werden. An meinem Spielspaß ändert das aber nichts. Letztlich bleibt die Aufgabe wie bei den allermeisten Spielen des Genres so abstrakt wie der Plan, den wir befüllen. Einen schönen grafischen Rahmen bietet das Underground-Thema aber dennoch.

Die Komplexität des Grundspiels können wir nach den ersten Partien bei Bedarf noch steigern, indem wir Zusatzkarten für Bonusziele dazunehmen. Dann erhalten wir etwa Extrapunkte, wenn wir zum Beispiel sechsmal die Themse kreuzen oder alle 13 Abschnitte ans Streckennetz anschließen. Um das Spiel etwas leichter zu machen, können wir auch jeder Farbe einen Vorteil wie eine zusätzliche Abzweigung zuweisen und ihn in der entsprechenden Runde nach Bedarf einsetzen. Für beide Mini-Erweiterungen liegt ein eigener kleiner Kartenstapel bei.

Ich habe NEXT STATION: LONDON innerhalb des ersten Monats 30 mal gespielt. Besonders in den ersten Wochen war ich beinahe süchtig nach den bunten Strecken, nach Kreisen, Fünfecken und Abzweigungen. Dass das Spiel auch online bei boardgamearena.com verfügbar ist, machte es mir leicht, der Sucht nachzugeben. Es ist wie gemacht für eine digitale Umsetzung. Aber egal ob analog oder digital: Mir wie auch meinen Mitspielerinnen und Mitspielern macht das Einzeichnen der bunten Linien unheimlich Spaß. Und auch wenn die Sucht der ersten Wochen mittlerweile etwas abgeebbt ist, bleibt NEXT STATION: LONDON ein hervorragendes Spiel, das sich von den anfangs genannten Roll & Writes, in denen wir Streckennetze einzeichnen, nicht nur inhaltlich abhebt. Für mich ist es der bislang beste Vertreter seines Genres.

Christoph Sachs

Matthew Dunstan: NEXT STATION: LONDON für 1 – 4 Personen ab 8 Jahren mit Illustration von Maxime Morin bei HCM Kinzel 2022, Spieldauer 25 – 30 Minuten, Made in China

Dieser Text erschien in der 142. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit: Abonnieren Sie das gedruckte Magazin oder bestellen Sie das einzelne Heft.