Fairplay 141 – Rezension: Dead Reckoning

Kaum ein Spiel habe ich auf dem C64 so viel gespielt wie Sid Meier’s Pirates! Meine Güte wie viele Stunden ich durch die Karibik geschippert bin. Bei Piratenstrategiespielen, egal ob digital oder analog, kann ich einfach nicht widerstehen. DEAD RECKONING stellt sich als 4X-Haudegen-Strategiespiel im piratischen Ambiente vor. Auskundschaften (eXplore), ausbreiten (eXpand), ausschöpfen (eXtract) und auslöschen (eXterminate). Na dann: Leinen los!

Wie viele Kickstarter betritt DEAD RECKONING optisch opulent die Spielfläche. Ein Würfelturm in Form eines Segelschiffs, aus dessen Backbordseite Würfelchen wie bei einer Breitseite auf einen zusätzlichen Spielplan schießen. Und gleichzeitig ein Deckbauspiel mit Card-Crafting-System, bei dem wir durchsichtige Folien übereinander in Kartenhüllen stecken, sodass die Karten im Laufe der Zeit immer stärker werden. Diese zwei Bestandteile hätten schon für eigene Spiele gereicht. Aber DEAD RECKONING macht dort nicht halt, sondern bietet noch einen modularen Spielplan aus zunächst verdeckten Inseln, verbesserbare Schiffe inklusive Miniaturen usw. Ian O’Tooles (ON MARS, LISBOA, …) Illustrationen und Grafik gestalten das Spiel thematisch und eindrucksvoll.
Bei so viel Zierwerk stellt sich die Frage, ist DEAD RECKONING nur ein Kostümfilm? Was für ein Spiel steckt drin? Wir spielen reihum. Bin ich an der Reihe, lege ich Karten von der Hand aus, verwende Fähigkeiten ausgespielter Karten, bewege meine Schiff auf dem Spielplan, lade Fracht und Gold auf und ab, entdecke neue Inseln oder interagiere mit entdeckten.
Ich fange mit dem Card-Crafting an. Wir alle haben dieselben zwölf Karten im Deck, unsere Crewmitglieder. Anders als bei anderen Deckbuildern bekommen wir im Spiel keine Karte dazu. Stattdessen verbessern wir unsere Karten mit zwei Mechanismen. Zum einen kann ich Aufwertungen kaufen: Meine Karten stecken in Kartenhüllen. Aufwertungen sind durchsichtige Folien, bei denen ein schmaler Streifen mit einer Eigenschaft bedruckt ist. Stecke ich die Aufwertung zu einer Karte in ihre Hülle, erhält sie sichtbar diese neue Eigenschaft. Allerdings darf ich ausschließlich Karten mit Aufwertungen verbessern, die ich in meinem Zug ausgespielt habe. Handkarten sind ausgeschlossen, aber ich kann sie dafür aufstufen. Wie eine Karte in einer Hülle steckt (Vorder- oder Rückseite, oben oder unten), bestimmt welche der vier Stufen des Crewmitglieds sichtbar ist. Und mit jeder Aufstufung steigern sich die aufgedruckten Fähigkeiten.

Abgesehen vom Herumschippern und Warentransport werden die übrigen Aktionen über Kartensymbole und -texte gesteuert. Einfache Symbole lassen mein Schiff mehr Ozeanfelder oder mich selbst mehr Handkarten ziehen. Oder sie produzieren Gold und Fracht in meinem Ausgangshafen. Mit anderen Symbolen werte ich mein Schiff auf: Mehr Frachtraum, Segel und Kanonen. Und dann gibt es noch Symbole für zwei weitere Themenkomplexe: Interaktion mit Inseln und Kämpfe. Inseln sind oft entscheidend für’s Gewinnen. Inseln produzieren Gold und Fracht. Fracht benötige ich, um zum Beispiel Karten- und Schiffsaufwertungen zu kaufen, und Gold ist das, womit ich gewinne. Außerdem ist das Kontrollieren von Inseln ebenfalls Gold wert (genau wie Schiffsaufwertungen und Tausend andere Dinge). Um eine Insel zu kontrollieren, muss ich mit Kartensymbolen Einflussmarker platzieren. Habe ich die Mehrheit, kann ich die auf der Insel produzierten Waren nehmen und Gebäude bauen. Diese lassen Inseln mehr produzieren oder schützen sie vor Angriffen.

Kampf ist der letzte Themenkomplex. Mit den richtigen Symbolen bin ich im Kampf gegen meine Mitspielenden, gegen Handelsschiffe und gegen Gebäude auf Inseln erfolgreicher. Für Kanonensymbole bekomme ich Würfelchen in meiner Farbe. Wer von mir angegriffen wird, erhält ebenso Würfelchen in seiner Farbe. Alle zusammen kommen oben in den Würfelturm, so dass sie wie Kanonenkugeln an der Seite herausfliegen und auf den verschiedenen Zonen des Kampftableaus liegen bleiben. Mit diesen Zonen ist klar, wer den Kampf gewinnt, wer wem (gegebenenfalls bis zum Versenken) Schaden verteilt oder Fracht und Gold geplündert. Egal ob im Angriff oder in der Verteidigung, egal wer den Kampf gewinnt, geplündert wird immer, und zwar ungewöhnlicherweise aus dem Vorrat. Wenn mein Schiff also nicht gerade sinkt, sind Kämpfe eigentlich immer lukrativ – solange das Glück mir hold ist. Aber mehr Würfelchen sind natürlich immer besser.

Für das Spielende sind Bedingungen definiert: Legendär bin ich nach vier erfolgreichen Kämpfen, ein Pfeffersack mit 30 Goldmünzen in meiner Schatztruhe, und noch sieben weitere. Sobald jemand vier dieser Erfolge erreicht, geht das Spiel zu Ende. Dann wird alles in Gold umgerechnet und wer das meiste hat, gewinnt das Spiel.
Die 32-seitige Anleitung ist Ehrfurcht einflößend. Aber schon während des ersten Spiels haben wir den Flow des Spiels verstanden und es fluppt einfach. DEAD RECKONING ein Sandboxspiel? Unser größter Trugschluss. Tatsächlich ist es eher ein Eurospiel, und in den Folgepartien haben wir kaum mehr als zwölf Runden gespielt, was anhand der Kartenaufstufungen gut nachzuvollziehen ist. Die Kartenaufstufungen und -aufwertungen sind für mich der interessanteste Bestandteil des Spiels. Mit dem Card-Crafting kann ich sehr verschiedene Strategien verfolgen und habe meinen Beobachtungen nach auch stets Siegchancen.

In manchen Partien ging es sehr friedlich zu, in anderen sehr kampfbetont. Das Kampftableau und der Schiffswürfelturm sprühen vor Thema. Natürlich ist dort der Zufall am Werk. Weil aber selbst bei einer Niederlage noch etwas für mich herausspringt, bleibt das alles verschmerzbar.
DEAD RECKONING gibt mir Freiheit und Raum, eine eigene Strategie zu erdenken, und mit dem Card-Crafting auch die Mittel, diese Strategien in die Tat umzusetzen. Die Anleitung stellt uns nicht einfach in einen Basar von Möglichkeiten, sondern gibt uns Ansätze für vier Basisstrategien mit auf den Weg. Mit verständlichen Kartensymbolen und detaillierten Beschreibungen aller vier Stufen der Crewmitglieder bleiben kaum Fragen offen.

Unsere Partien dauern knapp zwei Stunden, und selbst Auf- und Abbau gehen flott von der Hand. Wenn bei Ihnen am Tisch aber viel gebrütet wird, haben Sie gute Chancen auf längere Downtimes. Vielleicht probieren Sie dann einfach die Solovariante aus? Oder spielen zu zweit nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen zwei Automa?
Wir haben bisher ausschließlich mit dem Basisspiel gespielt. Gerade war die dritte Erweiterung bei Kickstarter, die hier Sagas heißen. Wie der Name sagt, gibt es neben Mehr-von-allem auch Zunächst-geheimes-Material und ein Saga-Abenteuerbuch. Mit dem Basisspiel sind wir im Moment mehr als gut bedient. Laut Verlag gibt es keine konkreten Pläne, DEAD RECKONING über den Handel zu vertreiben. Immerhin besteht durch den gerade vergangenen Kickstarter die Möglichkeit, das Spiel als Late-Pledge vorzubestellen.

Naheliegend ist natürlich der Vergleich mit KORSAREN DER KARIBIK (FP 98). Das liegt hier auch im Regal, aber kaum auf dem Tisch. Über drei Stunden spielen? Aktuell keine Chance. DEAD RECKONING ist aber nicht ganz so thematisch und definitiv näher am Eurospiel. Parallelen zu anderen Deckbuildern zu suchen, lohnt nicht, dann eher mit den Card-Crafting-Vorgängern wie MYSTIC VALE (FP 121), die aber nicht im Ansatz so überzeugen. Da macht DEAD RECKONING einfach alles besser. Und was ist mit SCYTHE (FP 122)? Abgesehen davon, dass SCYTHEs Sterne, die das Spielende auslösenden Erfolge inspiriert haben, sind beide sehr unterschiedliche Spiele.
Für mich gehört DEAD RECKONING zu den besten Spielen, die ich dieses Jahr gespielt habe. Und wenn wir nach der X-ten Partie eine frische Brise brauchen, stehen die Saga-Erweiterungen schon auf der Jakobsleiter.

Marcus Eibrink-Lunzenauer

John D Clair: DEAD RECKONING für 1 – 4 Personen ab 14 Jahren mit Illustration von Ian O’Toole bei AEG 2022, Spieldauer 90 – 150 Minuten

Dieser Text erschien in der 141. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit: Abonnieren Sie das gedruckte Magazin oder bestellen Sie das einzelne Heft.