Fairplay 140 – Rezension: Carnegie

William Carnegie war zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Textilindustrie florierte im schottischen Dunfermline zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wer also seine Finger im Geschäft mit der Baumwolle und ihrer Verarbeitung hatte, sollte doch Profit aus dem Stoff ziehen können. Der arme William war aber nur einfacher Weber, der mit harter Handarbeit das tägliche Brot für seine Familie verdiente. Und weil die Industrialisierung an Fahrt aufnahm, waren die Arbeiterhände nicht länger konkurrenzfähig. William war fortan oft ohne Lohn und Brot, seine Familie verarmte. Als Reaktion darauf wurde er zu einem radikalen Chartisten und Arbeiteragitator, der oft als einer der unangenehmsten Straßenredner Dunfermlines auffiel. Schließlich suchte William mit seiner Gattin Margaret und dem jungen Andrew im Schlepptau sein Glück im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch wieder passten weder Ort noch Zeit. Er landete als einfacher Arbeiter in einer Baumwollspinnerei. Sein Sohn Andrew nahm in derselben Fabrik eine Stelle als Klöppeljunge an, um den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern. Andrew allerdings verließ bereits im Jahr darauf die Fabrik, und er hingegen fand für sich den richtigen Ort und seine Zeit. Er begann – zunächst unspektakulär über eine Zwischenstation in einem Telegraphenamt in Pittsburgh – seine steile Karriere, die ihn schließlich zu einem mächtigen Stahltycoon und einem der reichsten Männer der Geschichte Amerikas werden ließ.

Andrew Carnegie gelang der Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen und so verwundert es wohl kaum, dass er einen großen Teil seines Vermögens für wohltätige Zwecke stiftete. Doch ist sein Bild eines generösen Philanthropen nicht frei von Makeln. In Carnegies Zeit waren Korruption, Vetternwirtschaft und rücksichtslose Ausbeutung von Arbeitern in dieser frühen Phase des amerikanischen Kapitalismus gang und gäbe, und auch Andrew Carnegie galt nicht eben als emphatischer und wohltätiger Unternehmer.

Wir spielen nun. Und das ganz im Stile des guten alten Andrew, indem wir diese Schattenseiten des Themas ignorieren. Als ambitionierte Unternehmer folgen wir seinem Vorbild und stehen vor der Aufgabe, unsere Schornsteine zum Rauchen zu bringen und die Gestalt der Karte der Vereinigten Staaten nachhaltig zu prägen. Wir streben nach Reichtum, von dem wir schließlich einen beträchtlichen Teil spenden werden. Denn am Ende unseres Schaffens wird getreu dem Motto Carnegies „der Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande“, Geld keinen Wert für uns haben. Wohl aber das Ansehen, welches jeder Unternehmer obendrein im Laufe der Zeit durch seine Beteiligung am Ausbau der Infrastruktur, die Entwicklung seines Unternehmens und das Realisieren von Projekten erlangt.
Die große Herausforderung, die uns das Spiel abverlangt, liegt nicht im Verständnis der Regeln. Diese sind leicht erlernt und gut verinnerlicht. Unser Treiben folgt zwanzigmal dem stets gleichen Ablauf: Der aktive Unternehmer wählt die Aktion für die Runde, anschließend wird abhängig von dessen Wahl ein Ereignis ausgelöst, welches für eine Ausschüttung von Einkommen sorgt oder das Entrichten einer Spende erlaubt. Ist das Ereignis abgewickelt, so führen wir nacheinander in der eigenen Firma die gewählte Aktion durch.

Diese Aktionen sind sachdienlich und uns Vielspielern durchaus vertraut. So kann das eigene Unternehmen Abteilung für Abteilung ausgebaut, Einkommen in Form von Waren oder Geld generiert, das Firmennetz weiter über das Land gesponnen, das Transportwesen entwickelt oder geforscht werden. Ein weiterer und wesentlicher Arbeitsschwerpunkt liegt im Personaleinsatz, denn im Laufe der Zeit verändert sich die Besetzung der Abteilungen durch Außendienste, der Bedarf an Mitarbeitern durch strategische Neuausrichtungen und es kommen obendrein neue Arbeiter hinzu.

Am Ende der Aktionsphase darf jeder noch Mitarbeiter aktivieren, die in neue Abteilungen entsendet wurden (sie ausbilden gewissermaßen). Der nächste Spieler beginnt wieder von vorne. Das war aus mechanischer Sicht bereits alles. Bei genauerer Betrachtung, also bei einem Vordringen zum Herzen des Spiels, offenbart sich aus meiner Sicht jedoch durchaus Innovatives.

Zum näheren Verständnis ist zunächst das Wissen um den Aufbau des eigenen Unternehmens erforderlich. Dieses gliedert sich in verschiedene Abteilungen, die Unternehmensbereichen wie zum Beispiel Personal oder Verwaltung zugeordnet sind.

Zu Beginn starten alle mit fünf Abteilungen. Im Verlauf des Spiels wird jeder sein Unternehmen ausbauen und weitere Abteilungen mit spezifischen Aufgabenbereichen eröffnen. So kommen vielleicht die Personalabteilungen „Verkauf“ und „Einkauf“ hinzu, die Konstruktionsabteilung „Kommunikation“ oder die Forschungsabteilung „Telegrafie“ und so weiter.

Jede dieser Abteilungen bietet Arbeitsplätze für unterschiedlich viele eigene Angestellte, also im Prinzip Arbeitereinsetzfelder. Allerdings aktiviere ich in meinem Zug nicht solche Felder auf meinem Unternehmenstableau, sondern ich wähle auf dem allgemeinen Zeitplan einen der vier Aktionssteine und stelle den Zeitplanmarker rechts neben diesen. Auf diese Weise aktiviere ich den zugeordneten Unternehmensbereich.

Wenn ich also den Bereich Personalabteilung aktiviere, dann kann jeder Spieler beliebig viele Arbeiter in seinem Unternehmen aktivieren, die sich in einer Personalabteilung befinden. Einige Arbeiter schuften dann einfach in ihrem Büro, andere hingegen können oder müssen gar in den Außeneinsatz geschickt werden. Diese reisen dann in irgendeine Ecke der Staaten um dort ihren Job zu erledigen.

Mit anderen Worten: Ich stelle sie auf einen der vier Bereiche des Spielplans, die Südstaaten oder den Mittleren Westen zum Beispiel. Schließlich, wenn alle ihre Arbeit erledigt haben, schiebe ich den Aktionsstein der von mir gewählten Aktion nach rechts, entferne den dort liegenden Zeitplanmarker und reiche diesen an den nächsten Spieler weiter. Folglich stehen alle Aktionen nur begrenzt zur Verfügung, denn ist das Ende einer fünfschrittigen Zeitleiste durch einen Stein erreicht, hat sich diese Aktion im Prinzip für uns erledigt.

Mir bereiten diese kniffligen Entscheidungen große Freude.

Allein dieser Aspekt für sich hebt CARNEGIE vom gewöhnlichen Arbeitereinsetzeinerlei ab. Doch damit nicht genug. Der Zeitplan, auf welchem die Aktion mittels Einsetzen des Zeitplanmarkers aktiviert wird, offeriert zudem ein potentielles Einkommen. Auf ihm ist je Feld einer der vier Bereiche der Staaten abgebildet. Sobald der Marker auf ein solches platziert wird, darf jeder Firmenchef, der Arbeiter im entsprechenden Bereich im Außeneinsatz hat, diese zurückbeordern.
Das hat zur Folge, dass sie eine Einkommensausschüttung generieren und zudem wieder in ihrem Unternehmen arbeiten können. Die Abteilungen können bisweilen recht unterbesetzt sein, wenn allzu viele Mitarbeiter im Außeneinsatz sind, daher ist diese Rückrufaktion essentiell.

An dieser Stelle schlummert ein kleines Dilemma. Je mehr Arbeiter ich zurückrufe, desto größer fällt das Einkommen aus. Entscheide ich mich daher zu warten um besser zu profitieren, könnte ich andererseits meine Arbeiter im Unternehmen schmerzlich vermissen. Es ist nämlich möglich, dass ich einige aktivierte Aktionen nicht ausführen kann, weil mir schlicht das nötige Personal fehlt. Hier stoßen wir auf echte Interaktion. Ich ärgere meine Mitspieler nicht allein durch das Wegschnappen, sondern auch durch das Wählen einer für sie völlig unpassenden Aktion.

Für reichlich Verdruss sorge ich, wenn ich einen Bereich wähle, aus dem mangels Außendienstmitarbeitern andere Unternehmer kein Personal abziehen kann. Ärgerlich wird es mitunter auch, wenn ich für alle die Möglichkeit zu einer Spende eröffne, wenn sie knapp bei Kasse sind. Spenden werden immer kostspieliger. Ungünstig ist all das vor allem angesichts der Tatsache, dass die Ereignisse und Aktionen limitiert sind.

CARNEGIE richtet sich an Spieler, die ihre Freude daran haben, unter beachtlichem Zeitdruck ein effizientes Unternehmen aufzubauen und früh eine punktträchtige Strategie zu verfolgen. Vieles ist möglich, alles wird jedoch niemand erreichen können. Die so wichtigen Spenden können am Ende ordentlich Punkte abwerfen. Mit ihnen setze ich mir im Spielverlauf bereits Ziele und gebe meiner Strategie eine Richtung.

Daneben liefern verwirklichte Infrastrukturprojekte reichlich Punkte, wenn sie ein zusammenhängendes Netzwerk bilden. Zumindest in einem dieser beiden Bereiche sollte man seinen Fuß in der Tür haben. Doch damit nicht genug: gebaute Abteilungen, erforschte Innovationen, realisierte Projekte – Punkte winken an jeder Ecke.

Mir bereiten diese kniffligen Entscheidungen große Freude. Zu Beginn fühlte ich mich ob der vielen Möglichkeiten ziemlich erschlagen, doch CARNEGIE ist tatsächlich eines dieser Spiele, die eine zweite, vielleicht sogar dritte Chance verdienen, womöglich sogar brauchen. Ich werde sicher noch reichlich Zeit investieren, um hoffentlich immer erfolgreicher auch noch die letzten Punkte aus dem Unternehmensimperium herauszuholen; übrigens gerne auch solitär!

Matthias Busse

Xavier Georges: CARNEGIE für 1 – 4 Personen ab 12 Jahren mit Illustration von Ian O’Toole bei Pegasus Spiele und Quined Games 2022, Spieldauer 90 – 180 Minuten

Dieser Text erschien in der 140. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit: Abonnieren Sie das gedruckte Magazin oder bestellen Sie das einzelne Heft.