Fairplay 135 – Rezension: Gloomhaven: Die Pranken des Löwen

Ein großer Auftritt

Groß, alles groß. Löwen sind die zweitgrößten Katzen der Welt. Ihre Pranken sind von entsprechenden Ausmaßen. GLOOMHAVEN ist groß, nicht vielleicht die Stadt, die Schachtel in der sie haust durchaus. Groß ist auch die Auswahl an Charakteren und Szenarien bei diesem Spieledino, ebenso wie die entdeckte und unentdeckte Welt außerhalb der Stadtmauern. Und der Spaß, so wissen etliche Menschen weltweit zu berichten, ist es allemal.


Ein großes Spiel. Zu groß womöglich? Nicht immer ist die Bereitschaft sich auf Großes einzulassen ebenso groß. Dann und wann ist weniger mehr. Und getreu dieses Mottos dürfte sich Isaac Childres die Schrumpfung seines gigantischen Meisterstücks auf die Fahnen geschrieben haben. Hat er nur die schiere Spielmasse geschrumpft oder den Spielspaß obendrein? Eine endgültige Antwort auf diese Frage werden folgende Zeilen schuldig bleiben, denn bis zu einer fundierten Stellungnahme zum großen Geschwister des kleinen Löwen fehlen noch weitere Stunden der Entdeckung.


GLOOMHAVEN – DIE PRANKEN DES LÖWEN begegnet uns keinesfalls als kleines Leichtgewicht. Es ist vielmehr hinsichtlich seines Auftritts ein ganz normales Spiel, steckt in einer ganz normalen Schachtel und liefert uns ein kaum verblüffendes Volumen an Material. Einen Spielplan suchen wir allerdings glücklicherweise vergebens. Die Löwen haben etwas viel Besseres im Gepäck: das Szenariobuch.


Statt – wie bei Spielen dieser Art gewohnt – auf die Suche nach Raumplanteilen zu gehen (die beim großen Geschwister praktisch ein eigenes ausuferndes Spiel darstellt), wird einfach auf- oder umgeblättert. Ein paar Münzen, Schätze, Fallen und so weiter erhalten Einzug, die unvermeidlichen Monster begeben sich auf ihre Ausgangsposition, dann kann es auch schon losgehen.


Anders als wir es kennen, führen uns die Abenteuer nicht aus dem Stadtgebiet von Gloomhaven hinaus. Im Gegenteil, zu Beginn kehren wir zurück und träumen – erschöpft von unserer Reise – von einem Besuch im schlafenden Löwen. Doch dieser muss dank einer Horde nervtötender Ratzen auf sich warten lassen. Wir gehören alle einer kleinen schlagkräftigen Söldnerinnentruppe an, den Pranken des Löwen eben und können uns daher gewissermaßen von Berufs wegen dieser lästigen Begegnung nicht entziehen. Mit ihr und vor allem dem rätselhaften Verschwinden des Schmieds beginnt all der viele Ärger, der uns nun, lange Zeit vor den Abenteuern GLOOMHAVENS, über eine Dauer von bis zu fünfundzwanzig Szenarien beschäftigen wird. Es wird uns in viele Ecken von Gloomhaven verschlagen.


Unsere Reise wird nicht so lang, wie die, die wir eines Tages viele Jahre später unternehmen werden, und wir werden auch das Rentenalter unserer Söldnerinnentruppe nicht erleben. Doch das Rätsel wollen wir lösen. Welche Ecken der Stadt und Kapitel der Geschichte wir auf dem Weg dahin tatsächlich kennenlernen werden; nun, wer kann das schon sagen…


Seite um Seite prügeln wir uns durch das Szenariobuch, schlagen bisweilen Extraseiten auf, tauchen tiefer in weitere Kapitel der Geschichte ein und begegnen immer stärkeren Gegnerinnen, die unserer Mission zu einem katastrophalen Scheitern verhelfen wollen.


Der Cocktail der Spielelemente gleicht dem des großen Geschwisters enorm. Getrieben werden die Aktionen auch hier mittels ausgespielter Fertigkeitskarten. Jede wählt in ihrem Zug zwei davon, aktiviert eine obere und eine untere Aktion je einer dieser Karten und legt sie anschließend ab. Später müssen sie durch das Einlegen einer langen oder kurzen Rast zurückgewonnen werden. Schwund derselben nach einer solchen Pause sorgt für steten Kartenverlust, im schlimmsten Falle bis zur Handlungsunfähigkeit wegen einer leeren Hand. Drum ist Eile angeraten, trödeln wäre im hektischen Gloomhaven töricht.


Die Karten verraten übrigens die Abfolge der Initiative, auch das ist nicht neu. Kämpfe werden in bekannter Manier mit Unterstützung des Angriffsmodifikator-Decks bestritten, welches zufällig die grundlegenden Kampfwerte beeinflusst und somit für Stärkung oder Schwächung der Durchschlagskraft sorgt. Diese Kartendecks werden sich im Laufe der Kampagne verändern, da verbesserte Karten als Belohnungen für erreichte Kampfziele winken oder diese alternativ dazu ein Ausdünnen des Decks durch Eliminierung negativer Karten erlauben. Die Verbesserungen sind geradezu essentiell und bieten neben den, sich ebenfalls verändernden Fertigkeitskarten der Charaktere und nützlicher Ausrüstung den Grundstock, um sich im Kampf mit immer fieseren Monstern nicht der Lächerlichkeit preis zu geben.


Gegenstände erwerben wir auf regelmäßigen Shoppingtouren, schließlich sind wir praktisch andauernd in der Stadt. Die meisten liefern starke, oft jedoch einmalige Effekte. Sofern sie nicht bei der Rast „regeneriert“ werden, stehen sie wie alles andere, was sich erschöpft oder verbraucht, im folgenden Szenario jedoch wieder zur Verfügung. Gloomhaven ist letztlich gnädig. Niemand stirbt endgültig, nichts ist wirklich verloren, wenn es künftig noch Nutzen stiften kann.


Was liefert nun GLOOMHAVEN – DIE PRANKEN DES LÖWEN? Neulinge nimmt die erstklassige, als Tutorial gestaltete Spielregel an die Hand und führt sie sanft und sicher in die Welt von Gloomhaven. Da der Aufbau, insbesondere der ersten Szenarien schnell von der Hand geht, kann man umgehend loslegen. Schneller noch als eine Reise nach ANDOR seinerzeit beansprucht hat, liegen Stadt und erste Abenteuer vor den Söldnerinnen. Über eine Dauer von fünf Szenarien lernen wir peu à peu alle wichtigen Regeln, Prinzipien und Abläufe kennen und können ohne viel Aufwand fix ins Spiel einsteigen. Das ist vorbildlich, hat aber auch zur Folge, dass sich Erfahrene anfangs schlimmstenfalls ein wenig langweilen könnten.


Mit der Geschichte kommen wir zum ersten Punkt, der mir eine Bewertung des Spiels erschwert; es ist schlicht reine Geschmackssache, die über Gefallen oder Nichtgefallen entscheidet. Isaac Childres ist bestimmt ein guter Spieleautor, möchte ich aber eine spannende Geschichte lesen, so greife ich lieber zu einem guten Buch einer Kollegin der schreibenden Zunft. Eine weitere Schwierigkeit sehe ich darin: taktische Kampfspiele dieser Art spalten die Spielerinnengemeinde oftmals. Reinrassige Eurospielerinnen umgarnt Herr Childres zwar mit der einen oder anderen eurofreundlichen Maßnahme, wer aber Spielen dieser Art nichts abgewinnen kann und wem das Fehlen von Würfeln und die Anwesenheit von Taktik- und Fertigkeitskarten nicht genügt, sollte sich nun besser der nächsten Rezension zuwenden.


Liest Du noch weiter? Das ist gut!


Mechanisch gesehen ist das Spielgeschehen vergleichsweise eindimensional, es dreht sich primär um das Kämpfen und das nötige Drumherum. Allerdings findet ein Gutteil des Geschehens vor allem in unseren Köpfen statt. Wir müssen uns nur auf die Geschichte und ihre Welt einlassen und bis über beide Ohren ins Abenteuer stürzen. Hier spielt GLOOMHAVEN – DIE PRANKEN DES LÖWEN seine wahre Stärke aus. Auch wenn ich die Geschichte nicht als literarisches Meisterwerk betrachten kann, vermag das Spiel dadurch für mich zu punkten. Garniert wird dieser narrative Schmaus mit dem besonderen Reiz, den das Planen und Auswählen der Fertigkeitskarten ausübt. Hier muss ich clever über das Timing und die Effizienz meiner Aktivitäten nachdenken, diese aber geschickt mit den Plänen meiner Mitstreiterinnen abstimmen. Mit der Weiterentwicklung meines individuellen Kartendecks, dem Erwerb von Gegenständen und Verbesserungen des Taktikkartendecks kann und werde ich im Laufe der Kampagne meine Söldnerin weiterentwickeln und ihr ihren unverwechselbaren Charakter verleihen.


Die Gegnerinnen folgen einer eher tumben Logik und zählen bestimmt nicht zu den cleversten KIs des Genres, schaffen es aber uns ordentlich einzuheizen. Das Spiel bietet eindeutig die nötige Herausforderung, uns bei der Stange zu halten. Ein Großteil der genannten Punkte treffen im Wesentlichen auf beide Familienmitglieder zu, also GLOOMHAVEN und DIE PRANKEN DES LÖWEN. Letzteres verdient seine Berechtigung insbesondere für Neulinge und ist sogar für Gelegenheitsspielerinnen geeignet.


Inwieweit es alte Kämpen tatsächlich zu begeistern mag, kann ich abschließend nicht wirklich beurteilen. Für mich ersetzt es das große Geschwister nicht. Aber eines ist gewiss: GLOOMHAVEN – DIE PRANKEN DES LÖWEN ist die perfekte Einstiegsdroge ins Genre. Zudem dient es bei Gefallen als Erweiterung und spendiert dem Genreprimus liebenswerte neue Charaktere und weitere Kampfziele.


Nun bleibt aber noch die Frage, hat Isaac Childres auch den Spielspaß auf Schachtelgröße geschrumpft? Meine Antwort lautet ja! Die Welt ist nun einmal kleiner und mit ihr auch die Abenteuer und die Reisen, die wir erleben. Es ist somit unvermeidlich, dass wir früher an Grenzen stoßen. Die gute Nachricht lautet allerdings, dass meine Antwort ein Aber beinhaltet. Ja, aber die Welt ist eindeutig noch groß genug. Und sie erschlägt Neulinge nicht in dem Maße, wie das GLOOMHAVEN zuvor vermochte. Bei mir stehen beide Schachteln einträchtig nebeneinander und werden einander und mich nicht wieder verlassen.

Matthias Busse

Isaac Childres: GLOOMHAVEN: DIE PRANKEN DES LÖWEN für 1 – 4 Personen mit Illustration von Francesca Baerald, Cat Bock, David Bock, David Demaret, Alexandr Elichev, Jason D. Kingsley, Josh T. McDowell bei Feuerland Spiele 2020, Spieldauer 30 – 120 Minuten