Fairplay 116 – Rezension: Champions of Midgard

Cover von CHAMPIONS OF MIDGARD

Das ist schon ein wilder Haufen: Meine heroischen Krieger. Tragen ihre Schwerter, Speere und Äxte todesmutig in den Kampf. Dabei bieten ihnen ihre Schilde nur mäßigen Schutz. Allein ihr Können und ihre kriegerische Erfahrung vermögen Unheil zu verhindern. Und Glück, jede Menge Glück. Ich bin ihr Chef. Der Führer dieser Horde Wikinger. Und der bin ich mit großem Stolz. Denn die Zeiten sind rau, seit der Jarl von Trondheim gefallen ist. Und sie verlangen nach wagemutigen Helden, die uns verteidigen gegen die Brut. Das Land versinkt führerlos im Chaos. Dieses Vakuum der Macht wird besetzt vom übelsten Abschaum. Ob nah, ob fern, die Scheusale warten an jeder Ecke. Der Troll schafft es sogar bis vor die Tore unserer Stadt, die Untoten wüten in den Nachbarorten, nur die Monster treten nicht vor unser Antlitz. Die Biester stellen hinterrücks hilflosen Reisenden nach. Doch unsere Boote sind schnell und fahren weit. Wir fürchten keines dieser Wesen. Wir nicht!

Meine Kämpfer metzeln in meinem Auftrage die übelsten Kreaturen nieder, und so manches Mal bezahlt einer von ihnen diese ehrenvolle Aufgabe mit seinem Leben. Doch was hilft es. Wir müssen uns der Bedrohung der Monster stellen, denn wir lassen uns nicht ausplündern und unterjochen. Und wenn einer von uns nicht vom Schlachtfeld wiederkehrt, dann erwartet ihn nur noch Größeres. Walküren geleiten diesen neuen Einherjer zu einem Umtrunk in Walhall. Ein Hörnchen Met mit Odin persönlich. Mir jedoch steht noch weit Größeres im Sinn. Getragen von der dankbaren Bevölkerung unserer einst so gebeutelten Stadt, soll mein Name in aller Munde sein. Ich werde berühmt, als der Clanführer der wagemutigsten Wikinger, der schlagkräftigsten Truppe. Und mag er schon mein Horn befüllen, auf mich wird Odin noch warten müssen am Ende der rechtlosen Zeiten. Auf mich, den neuen Jarl von Trondheim.

Alles klar soweit? Wenige Parameter sind noch der Erwähnung wert. Kompetitiv ja, kartengesteuert nein. Asymmetrisch? Durchaus, allerdings eher subtil und nicht spielbeherrschend. Vierunddreißig Würfel, das Material überwiegend sprachneutral. Die ziemlich missratene englische Spielanleitung hat durch die überarbeitete der dritten Auflage eine gut verständliche Nachfolgerin bekommen.

Den Rest kann sich jeder denken. Und ja: es handelt sich um ein blütenreines Einsetzspiel, ein Wikingereinsetzspiel. Wir sehen auch hier eine kleine Stadt mit vielen Orten im Zentrum einer Karte, wie wir schon viele vergleichbare Städte mit ebensolchen Orten sehen konnten. Das erleichtert den Zugang zu einem Spiel, das ohnehin ohne nennenswerte Hürde mühelos erlernt werden kann. In der Stadt verrichten unsere kleinen Helfer die üblichen, nützlichen Handlangerarbeiten. Wie gewohnt dürfen dabei die verschiedenen Einsetzfelder – bis auf eine Ausnahme – nur von einem Wikinger besetzt sein.

Im Prinzip gilt mein Augenmerk dem Rekrutieren von Kämpfern, dem Ausbilden neuer Arbeiter und der Nahrungs- oder Holzbeschaffung. Für Holz kann ich eine Runenkarte erwerben, die mir Siegpunkte und einen wertvollen Einmaleffekt verschafft. Mit der Nahrung hingegen schnüre ich meinen Kämpfern ein Lunchpaket für deren Reise zu den Monstern. Diese treten sie wiederum in einem Langboot an. Eines, um das alle Teilnehmer (über ein Einsetzfeld) rangeln oder in einem eigenen, beim Schiffbauer für Gold und Holz erworbenen. Das bringt meine Kämpfer in die Schlacht und liefert zudem noch Siegpunkte am Spielende.
Wer sich im Haus des Weisen die eine oder andere Schicksalskarte besorgt, erhöht ebenfalls, bei Erfüllen der Bedingung der selbigen, seine Punktausbeute. Kurzum, es geht um Punkte. Die erhalten wir für ein wenig von Diesem und etwas von Jenem, in erster Linie aber für in Kämpfen besiegte Gegner.

Das zugrundeliegende Kampfsystem ist dabei herrlich schlicht und elegant. Alle Gegner zeigen uns freimütig ihre Kampf- und Verteidigungswerte. Es gibt keine Karten, keine Würfel, welche die Werte beeinflussen. Kein unerwartet auftauchender Zaubertrank, keine Wunderwaffe in der hohlen Hinterhand wird für böse Überraschung sorgen. Während der Phase des Einsetzens meiner Wikinger habe ich bereits jenen, die ein Gefecht anzetteln, ausgewählte Kämpfer zugewiesen.
Nun, im Anschluss an die Einsetzphase werden diese Gefechte schließlich ausgetragen. Dann nämlich kommt es zum Showdown. Ich werfe meine Kampfwürfel und vergleiche meine Werte mit denen meines Gegners. Für jeden meiner Treffer nimmt dieser Schaden. Das ist soweit nichts Neues. Ich wiederum bin jetzt aber nicht zum Lecken meiner Wunden verdammt, sondern verliere für jeden nicht mit einem Schild geblockten Treffer einen Würfel meiner Wahl und trete somit die folgende Kampfrunde geschwächt an; wenn es überhaupt eine geben muss oder kann.

Dieser „Push Your Luck“ Mechanismus verlangt nach klugen taktischen Überlegungen. Bei Gegnern, die in der Verteidigung schwach sind, kann es durchaus sinnvoll sein, auch mal weniger Kämpfer in die Schlacht zu schicken, diese, aber eben nur diese, dann ihrem nahezu sicheren Tod zu überlassen. Nun denn, CHAMPIONS OF MIDGARD erfindet das Langboot nicht neu. Ein recht ähnliches Spielgefühl lieferte zum Beispiel schon LORDS OF WATERDEEP. Wie bei diesem sind auch hier in Midgard unsere Tage gezählt; nach acht Runden des Wetteiferns um Ruhmespunkte ist Schluss mit unserem kriegerischen Treiben.

Spielerisch ist all das steinalt wie die Runen vom Schmied um die Ecke, und das Thema Wikinger wurde und wird gerade ausgelatscht wie ein Paar alte Schuhe. Warum also werde ich am Ende dieses Textes eine nachdrückliche Kaufempfehlung aussprechen? Beginnen wir mit dem Thema. Der Prolog führt stimmungsvoll in unsere Geschichte ein, wir sind uns der Bedeutsamkeit unserer Mission bewusst.

Die Krieger mit ihren verschiedenen Waffengattungen, obgleich sie lediglich als Würfel auftreten und wir gegen den Trend auf Miniaturen verzichten müssen, haben für mich eine wahrhaftige Präsenz. Liegt es an der überaus gelungenen Gestaltung des Materials, an den vielen liebevollen Details, wie der Einbettung der mystischen Bedeutung von Runen? Oder ist es das große Ganze? Zum Beispiel das, was die Karte Midgards dem Auge des Spielers offeriert. Die Ortschaft im Zentrum, die tristen Berge im Norden der Stadt. Der Ort an dem die Kreaturen hausen, den sie nur zum Zwecke ihrer Angriffe verlassen. Im Süden liegt die Küste, hier beginnen alle Reisen ins Ungewisse. Ein nebelhafter, dünner Schleier wabert über den Bergen in der Ferne.

All das erscheint oberflächlich nicht treffender oder stimmiger als in anderen Spielen. Doch haben mich die Champions mehr gefangen als das BLOOD RAGE vermochte. Und nicht einmal das fabelhafte EXPLORERS OF THE NORTH SEA konnte mich so erfolgreich in die sagenhafte Welt der nordischen Mythologie versetzen. Aussehen ist jedoch nicht alles. Der Blick auf die inneren Werte bestätigt den ersten Eindruck. CHAMPIONS OF MIDGARD bietet keinen Anlass etwas Unerwartetes, Unbekanntes zu bejubeln. Im Gegenteil, es wartet geradezu lässig mit einer spielerischen Unaufgeregtheit auf. Vielleicht ist es genau diese Leichtigkeit, die das Spiel ausmacht. Sie ist wundervoll elegant, keineswegs banal. Es gibt einiges zu bedenken, aber keinen Anlass für rauchende Köpfe.
Wo LORDS OF WATERDEEP mich beizeiten im Stich lässt und mich zuvorkommende Mitspieler zu mäßigen Alternativen gezwungen haben, kann ich hier im Norden eigentlich immer einen vernünftigen Plan A zwei aus dem Köcher ziehen. Daher hatte ich bisher viel seltener Bauchschmerzen, wenn ich den Startspielermarker mal nicht ergattern konnte. Vielen Spielern könnte das vorhandene Würfelglück aufstoßen. Doch lohnt es sich im Grunde nicht, verlorenen Würfeln nachzutrauern. Ich kann auch nach erfolglosen und verlustreichen Angriffen oft gleich in der folgenden Runde einen Angriff mit Minimalbesetzung wagen. Für mich ist CHAMPIONS OF MIDGARD ein rundum gelungener Primus des letzten Jahrgangs, der einen tiefgründigen Unterhaltungswert mit einer erfrischenden Leichtigkeit vereint. Und daher fließt sie mühelos aus meiner Feder, die angekündigte Kaufempfehlung.

Matthias Palmer

Ole Steiness: CHAMPIONS OF MIDGARD für 2 – 4 Personen mit Illustration von Jose David Lanza Cebrian und Víctor Pérez Corbella bei Corax Games 2019, Spieldauer 60 – 90 Minuten