Fairplay 72 – Rezension: Blue Moon

Du sollst keine anderen Spiele haben neben mir

“Bis zu jener unheilvollen Nacht des Schicksals lebten die acht Völker in Frieden und Harmonie. Der Gott BLUE MOON schenkte ihnen den Heiligen Kristall und die Kraft des Psi, damit…” Ja, ja, die Khind unter Ihnen werden mich dafür verhöhnen, dass ich die alten Legenden wieder ausgrabe. Als Hoax werden Sie meine Legitimation anzweifeln und Ihre eigene Version zum Besten geben wollen. Und sollten Sie zu den verschwiegenen Pillar gehören, haben Sie meine Rede bereits nach der ersten Zeile als geschwätzig abgetan. Dennoch: Die Geschichte muss hier ein weiteres Mal aufgerollt werden. Mittlerweile sind sieben Völker-Sets am Kampf um die Nachfolge des Königs beteiligt und unvorhergesehen mischten sich auch noch GESANDTE & INQUISITOREN ein. BLUE MOON stellt sich anders dar als nur nach dem Basis-Set und das rechtfertigt, finde ich, nach Harald Schrapers Rezension in FP 67 eine zweite Betrachtung. Jede aufrechte Mimix dürfte sich durch diese Dopplung bestätigt fühlen.

Ganz kurz, weil Sie ja vielleicht das letzte Jahr hinterm Mond verbracht haben: BLUE MOON ist ein Stichspiel mit zwei Trumpffarben. Jede Kampfkarte besitzt einen Wert für Erde, einen für Feuer. Üblicherweise hält man sechs Karten auf der Hand, spielt eine oder mehrere aus und zieht wieder nach. Wer den Stich eröffnet, legt einen “Charakter” und sagt an, ob er mit dessen Erd- oder Feuerwert kämpft. Der Gegner muss nun in demselben Element gleichziehen oder erhöhen. Eine Charakterkarte ist bei jedem Ausspiel Pflicht. Hinzukommen können weitere Karten mit zusätzlichen Stärkewerten oder einer Sonderfunktion. Einmaleffekte heißen “Verstärkung”, Dauereffekte “Unterstützung”. Der Kampf geht hin und her, bis eine Seite nicht mehr parieren kann oder will. Der Sieger erhält einen Drachen. Sofern er mindestens sechs Karten ausgelegt hat, sogar zwei. Wenn ein Spieler keine Karten mehr hat, endet der Durchgang und die gewonnen Drachen stellen, vereinfacht gesagt, die Punktwertung dar.

Knizia verwebt Ideen aus anderen eigenen Stichspielen zu einem neuen gefälligen Ganzen: Der kluge Anführer weiß die Stärke seines Blattes einzuschätzen, zieht sich zurück, sobald eine Zwei-Drachen-Niederlage droht; bei begründetem Optimismus lockt er den Gegner in ein längeres Scharmützel, bis mindestens sechs Karten ausliegen. Ist diese Grenze erst mal überschritten, wird es mitunter mächtig spannend, wem nun zuerst die Puste ausgeht. Klein anfangen und dann die Daumenschrauben anziehen oder gleich voll aufs Mett? lautet die Frage, wobei Zufälligkeiten der Kartenhand natürlich die Möglichkeiten limitieren. So weit, so hübsch – aber weder eine neue Welt, noch weltbewegend.

Jetzt spielen aber nicht beide Seiten mit denselben Karten. Jeder wählt eines der Völker, erhält dadurch andere Möglichkeiten und muss seine Spielweise anpassen. Vulca und Terrah beispielsweise besitzen hohe Werte und sind recht leicht handhabbar, die Flit müssen sparsam mit ihren wenigen Charakteren umgehen, die Hoax erfordern gutes Timing bei Verstärkungen und Unterstützungen. Alle Sets sind so, wie man sie erwirbt, sofort spielbar und in etwa gleichgewichtig. Möglicherweise sind Flit und Terrah noch ein bisschen gleichgewichtiger als die anderen, aber wenn man sich da selbst nach etlichen Partien nicht wirklich sicher ist, spricht dies für ein bewundernswertes Fein-Tuning von Reiner Knizia und seinen Testern.

Allein mit den unveränderten Grundsets lässt sich ausdauernd und taktisch niveauvoll spielen: Acht Völker können in verschiedenster Kombination gegeneinander antreten, und bei Wiederholung desselben Duells vertieft sich die Spielweise durchaus: Man wird von speziellen starken Karten des Gegnerdecks nicht mehr überrascht, bereitet sich auf deren Auswirkungen vor und lernt auch die Bedingungen kennen, unter denen manche Charakterkarten überhaupt erst ins Spiel gebracht werden dürfen. Erfordert ein gegnerischer “Mutant” (Charakter, der die Trumpffarbe ändert) etwa eine Angriffs-Stärke von sieben, versucht man den Kampf eben penetrant auf sechs zu halten.

Strategisch wird’s, baut man eigene Decks. Ein Volk bildet dafür die Grundlage, hinzufügen darf man Fremdkarten mit einer festgelegten Anzahl von Monden (= Karten-Grundwert).

Beispiel Mimix: Bei diesem Volk dürfen je zwei zusammengehörige Charaktere als Paar gespielt werden und besitzen dann einen entsprechend höheren Wert. Das macht Freude, jedoch besteht das Problem, genau diese zwei Charaktere auch zugleich auf die Hand zu bekommen. Den Mimix helfen also Sonderfunktionen, mit denen sie zusätzliche Karten nachziehen oder Karten vom Ablagestapel zurücknehmen dürfen. Als klassisches Haudrauf-Volk leiden die Mimix außerdem unter dem klassischen Haudrauf-Nachteil: Spielt man mal eine starke Combo, zieht sich der Gegner zur Schadensbegrenzung postwendend zurück. Zu den Mimix passen deshalb Karten, die zusätzlich zu den Charakteren ausgelegt werden dürfen, sodass man flotter die Sechs-Karten-Grenze erreicht.

Beispiel Pillar: Ihre Sonderfunktionen zwingen den Gegner, Karten abzuwerfen oder sein Blatt aufzudecken. Gegen einen konstant starken Widerpart bekommen die nur mäßig muskulösen Pillar aber Probleme. Eine mögliche Kompensation wäre, einen bunten Strauß weiterer Störfunktionen aufzunehmen, um den Gegner erst gar nicht wirkungsvoll ins Spiel kommen zu lassen. Als besonders schäbig erweisen sich hier Klau-Funktionen. Erst zwingt man den Gegner zum Aufdecken, dann wirft man gezielt seine Paradekarten auf den Müll. – Einseitige Abrüstung kann ja sooo entspannend sein.

Derartige Überlegungen lassen sich beim Deckbau für jedes Volk anstellen. Ein deutlich anderer Denkansatz sind Anti-Strategien: Wenn man vorher weiß, auf welches Volk man trifft, kennt man auch deren Schwächen. Gegen Gegner, die andauernd mit ihren Unterstützungen im Gange sind, nimmt man also Anti-Karten auf, die die Unterstützungen nicht in die Gänge kommen lassen.

Etc. etc. Und wer auf einer abstrakten Ebene einsteigen möchte, konzipiert im ersten Schritt seine generelle Deckstrategie und wählt erst daraufhin ein passendes Volk samt Ergänzungskarten. Je nach Temperament mag man etwa schnelle langsame Decks bevorzugen.

Schnell geht so: Viele starke plumpe Charaktere, dazu ein Bündel schlagkräftiger Verstärkungen und Unterstützungen und immer raus damit, raus damit, raus damit. Derweil setzt die gegenteilige Spielweise auf gezieltes Handkartenmanagement: Einige Sonderfunktionen sorgen dafür, dass man zusätzliche Karten ziehen darf, andere erlauben, bereits abgelegte Karten zu reaktivieren und den Mitspieler damit noch mal zu penetrieren.

Oder alternativ und drittens ein ganz anderer Weg: Kaufen statt kämpfen! Manche Sonderfunktionen ermöglichen, Drachen gegen Abwurf von Stärkepunkten zu erwerben. Dieser Tauschhandel lässt sich professionalisieren, indem man die Funktion so oft wie möglich ins Deck nimmt und mit nicht zu knapp Mutanten paart, die keine Monde kosten, aber hohe Werte bringen.

Der Deckbau – und das sollen die Beispiele illustrieren – ist eine schöne Spielwiese. Allerdings nur für Leute, die sich wirklich intensiv mit BLUE MOON beschäftigen. Um BLUE MOON auszukosten, benötigt man einen etwa gleichermaßen fortgeschrittenen Spielpartner und viel, viel Zeit. Und daran hapert’s bei mir – und anderen Vielspielern sicher auch. Obwohl mir BLUE MOON nach anfänglicher Skepsis mit jedem Volk sympathischer geworden ist, reicht es nicht zu mehr als mit den jeweils neuesten Erweiterungen ein bisschen herumzuexperimentieren und ansonsten gespannt auf das nächste Set zu warten. Wahrscheinlich wird BLUE MOON sich zu einem Spiel entwickeln, das ich, statt es tatsächlich aktiv zu spielen, eigentlich nur besitze. Aber auf keinen Fall wieder hergeben möchte, denn aus der jährlichen Neuheitenflut, die meine genuine Begeisterungsfähigkeit für Spiele spürbar abstumpfen lässt, ragt BLUE MOON tatsächlich als etwas Besonderes heraus.

Ganz wesentlichen Anteil hat daran die sehr atmosphärische Optik. Auch wenn speziell Vulca, Flit und Hyla mir nicht zusagen: Das Konzept, für jedes Volk einen anderen Grafiker zu beauftragen, ist ein Volltreffer. Die großformatigen Karten bieten genügend Raum, um sich gestalterisch richtig auszutoben und gelegentlich nette Kleinigkeiten zu verstecken. Bei BLUE MOON habe ich mehr als nur einen irgendwie bunten Kartenhaufen in der Hand, es überträgt sich eine gewisse Corporate Identity: “Mir san mir und ihr anderen könnt’s uns mal!” Wahrscheinlich erklärt dies, warum einige Flavourtexte auf den Karten nur dazu dienen, die anderen Völker plump zu dissen: “Wie erschreckt man einen Flit? – Halt ihm einen Spiegel vor.” -Khinders, was haben wir gelacht.

Doch einige Texte besitzen tatsächlich mehr Gehalt. Als Deduktionsspiel im Spiel auf diverse Karten verstreut erzählen die Völker aus ihrer Sicht die Geschichte des Untergangs von BLUE MOON City. Ein Informationsfetzen hier, ein weiterer da. Mit brisanten Textquellen bringt das neue Set GESANDTE & INQUISITOREN die Rekonstruktion erheblich voran, lässt aber immer noch Entscheidendes offen. Was zum Beispiel geschah mit der Königin, die zu einer rituellen Reise aufbrach und nicht zurückkehrte? Und kann man den beiden auserkorenen Thronfolgern wirklich über den Weg trauen? Selbst wenn die beiden noch für 2005 angekündigten Sets solche Lücken schließen, scheint es mir kaum glaubhaft, dass Reiner Knizia mit seinem Team eine umfassende Fantasywelt entwickelt, deren Geschichte skizziert (die Kartentexte sollen nur Bruchstücke des Originals sein) – und es dann dabei belässt. Ganz gewiss sind noch weitere Spiele in der Welt von BLUE MOON angedacht und werden bei kommerziellem Erfolg auch kommen. Wenn keine weiteren Karten-Sets, dann vielleicht eigenständige Brettspiele. Neben Teubers gelber Sonne will Knizia auch seinen blauen Mond aufgehen sehen.

Wie viele Erweiterungen verträgt das Kartenspiel? Die sieben bzw. bald acht Völker sind für mich über jeden Zweifel erhaben: Ich brauche sie alle!

GESANDTE & INQUISITOREN dagegen eigentlich nicht. Obwohl sie, was man so hört und recherchiert, zusammen mit den acht Völker-Sets entwickelt worden sind, spielen sie sich, als seien sie nachträglich auf ein geschlossenes System draufgesattelt worden. “Interventionen” etwa funken bei einem Spielzug des Gegners dazwischen und wirken sich für mein Gefühl unharmonisch auf die bis dato geordneten Abläufe aus. Das Hilfsvolk Hyla wirkt als Dauereffekt anders als die Unterstützungen nicht nur für einen Kampf, sondern so lange, bis eine andere Hyla gespielt wird. – Kann man es sich fortan erlauben, ein Deck ohne Hyla zu bauen? Ich zweifle. Obwohl BLUE MOON ja ausdrücklich ein ausgewogenes und anfängerfreundliches Spiel ohne Sammelorgie sein soll, erinnert mich G&I unangenehm an andere erweiterbare Kartenspiele, wo eine neue Kartengeneration automatisch eine neue Ära der Hochrüstung einleitete. Für BLUE-MOON-Hardcore-Aktivisten mögen die Neuerungen zu noch mehr Raffinesse beitragen; ich als Gelegenheits-BLUE-MOON-Spieler empfinde lediglich die zwei “Inquisitoren”-Karten, die alternative Bedingungen für den Deckbau definieren, als konstruktiv.

“Eigentlich”, schrieb ich, brauche ich G&I nicht. Denn am Ende brauche ich es natürlich doch. Da man verlagsseitig schlau bei allen Völkern ein paar Karten weggelassen hat, die ich mir in den anderen Sets zusammensuchen muss, enthält G&I neben viel Gerümpel leider auch ein paar Karten, die mir noch fehlen. Na klar, ich kann ohne sie spielen.

Genauso wie man auch Bier ohne Alkohol trinken kann. Aber da BLUE MOON für mich nicht nur Spiel, sondern auch Besitztum ist, will ich natürlich nicht ohne! Erstaunlicherweise treibt mich gerade die Aussicht, dass BLUE MOON nicht im üblichen Sinne sammelbar sein soll, in die gierig hechelnde Sammelei. – By the way: Sind eigentlich schon Bilder von den kommenden AQUA im Netz?

Udo Bartsch

Reiner Knizia: BLUE MOON für 2 Personen ab 12 Jahren mit Illustration von John Matson, Michael Phillippi, Franz Vohwinkel bei KOSMOS 2004, Spieldauer 30 Minuten