Fairplay 144 – Rezension: Erde

Nix geht über Engine Builder

Hype und Kreuter! Das fällt mir direkt zu ERDE ein. Hype etwa, weil es seit Monaten in der Boardgamegeek-Liste der heißesten Spiele steht. Warum das so ist, erscheint von außen betrachtet unergründlich. Die Kreuter-Assoziation kann ich einfacher erklären. Als ich in einer meiner Spielerunden fragte, wie ihnen ERDE gefällt, war eine Antwort: „ERDE? Welches Spiel ist das nochmal? Ach, ist das dieses hässliche?“ So harsch urteile ich nicht, aber es stimmt: Rein äußerlich erinnert mich ERDE an „Der Biogarten“ von Marie-Luise Kreuter aus den ’80ern. Absolut nichts gegen Bio, aber FLÜGELSCHLAG sieht einfach eleganter aus.

Dabei verbindet FLÜGELSCHLAG noch mehr mit ERDE: Zwar geht’s jetzt nicht um Vögel, sondern um Pflanzen. (Na ja, auch um Pilze. Da scheint es der Autor nicht so genau zu nehmen.) Aber beide Spiele sind Tableau Builder. Selten offenbaren Autor*innen so viel über ihre Überlegungen, wie Maxime Tardif das über sein ERDE tut. Tableau bzw. Engine Builder haben es ihm generell angetan. Ich zitiere: „Ich denke, dass die besten Strategiespiele Engine Builder sind, da sie allgemein mehr Tiefe bieten als andere Formate.“ FLÜGELSCHLAG, TERRAFORMING MARS und RACE/ROLL FOR THE GALAXY sind Tardifs Säulen der Erde. Es spricht überhaupt nichts dagegen, das Beste aus den Branchenprimussen herauszuholen und selbstbewusst neu zu komponieren. Diesmal eben mit Pflanzen (und Pilzen).

Ein dicker Stapel von Karten liegt im Schachtelboden, aus denen wir uns je 4×4 Raster bauen. Sobald irgendwer diese 16 Karten gespielt hat, endet das Spiel. Wenn ich der aktive Spieler bin, wähle ich eine von vier Aktionen:

Entscheide ich mich für Pflanzen, darf ich zwei meiner Handkarten in mein Raster pflanzen. Karten haben einen Grundsiegpunktwert und wie immer gewinne ich nur, wenn ich die meisten Siegpunkte sammele. Bei Kompostieren bekomme ich fünf Erde. Das ist die etwas ungünstig benannte Währung, mit der ich beim Pflanzen meine Karten bezahle. Außerdem lege ich beim Kompostieren noch zwei Karten vom Nachziehstapel auf meinen Kompost. Sehr ertragreich, weil jede Kompostkarte später einen Siegpunkt gibt.

Ich kann mich auch für Wässern entscheiden. In dem Fall erhalte ich zwar auch etwas Erde, aber ich kann auf meine Pflanzen Eier, ach neh, Sprossen legen. Auch sehr fruchtbar. Sprossen bringen später schließlich auch einen Siegpunkte.
Und zum Schluss kann ich es auch Wachsen lassen: vier Karten nachziehen und zweimal Wachstum platzieren. Kartoffeln wachsen maximal einmal, ein Riesenmammutbaum sogar bis zu achtmal. Ja, Wachstum bringt auch einen Siegpunkt.

Ähnlich wie bei RACE FOR THE GALAXY wähle ich zwar die Aktion aus. Die anderen spielen aber gleichzeitig mit und dürfen dieselbe Aktion in abgespeckter Version ausführen. So gibt’s fast keine Downtime und alle sind immer involviert. Das ist nicht neu, eher bodenständig.

Menschen mit Farbfehlsichtigkeit wurden bei der Auswahl der Kartenfarben vergessen.
Unten, die Farben der Aktionskarten. Oben, wie z.B. Menschen mit einer Farbfehlsichtigkeit dieses (annähernd) wahrnehmen.

Neu ist eher: Jede Aktion entspricht einer Farbe. Nach der Aktion dürfen wir alle die gleichfarbigen Kartenfähigkeiten in unseren Rastern ausführen. Mit den Kartenfähigkeiten kann ich Erde sammeln, neue Karten auf die Hand holen, Karten aus meiner Hand kompostieren usw.

Während der Partie können wir versuchen, die vier ausliegenden Faunakarten zu erfüllen. Eine Faunakarte könnte zum Beispiel das Vervollständigen von mindestens zwei Spalten in meinem Raster fordern. Wer eine Faunakarte zuerst erfüllt, erntet mehr Siegpunkte als die später kommenden. Außerdem liegen noch Ökosystemkarten aus, die uns am Spielende zusätzliche Siegpunkte für das Erfüllen bestimmter Konstellationen in unseren Rastern einfahren.

Es gibt zwar noch ein paar weitere Regeln, aber insgesamt können auch Neulinge schnell mit ERDE beginnen. Das heißt nicht, dass aller Anfang leicht wäre. Die Karten überfluten uns zu Beginn mit Informationen. Das wird nur nach einigen Partien einfacher, wenn wir einen besseren Überblick über die mehr als 280 Karten und ihre Effekte gewonnen haben. Gerade mit neuen Mitspielenden wird das inhärente Glück eines Kartenspiels oft in den Vordergrund gestellt. Wenn mein Mitspieler beispielsweise am Ende viele, viele Karten auf seinen daumendicken Kompoststapel gelegt hat, aber eine andere Mitspielerin eine Karte bekommt, die ihr oben drauf zusätzliche Siegpunkte für den Kompost abwirft, wird mit Kartenglück und fehlender Balance argumentiert. Mit mehr Partien kommt die Einsicht. Und zum Glück auch die Erfahrung, sich nicht von manchmal komplizierter Symbolsprache den Boden unter den Füßen wegziehen zu lassen.

Dazu kommen noch die vier Fauna- und drei Ökosystemkarten, die unsere Aufmerksamkeit verlangen. Gerade wenn diese sehr unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Ansprüche stellen, sind neue Mitspielende stark gefordert. Wie sollten sie auch, ohne alle Karten zu kennen, abschätzen können, welche dieser Karten harmonieren.

Harmonie ist ein gutes Stichwort: Während die Fotos auf den Karten durch die Bank schick sind, bleibt die Kombination von Fotos und Kartengestaltung … polarisierend. Mich erinnert es eben an alte Gartenbücher wie das von Frau Kreuter. Auch sonst gibt es am Material einiges auszusetzen. Angefangen von der unüberlegten Farbwahl für die Aktionen, die Menschen mit Rot-Grün-Sehschwäche aussteigen lässt, hin zu nie plan liegenden Papptableaus oder dem grob verpixelten Bild auf Seite 1 der Spielregel.

Und dennoch spiele ich ERDE gern. Im Vergleich zur Konkurrenz kriege ich es flotter spielbereit auf den Tisch, ich bin schneller wieder aktiver Spieler und sowieso, sind wir immer alle am Ball. Dazu kommen noch abwechslungsreiche Taktiken je nach Kartenkombinationen, auf die ich Zugriff habe oder irgendwann später endlich ausprobieren möchte.

Im oberen Bereich des persönlichen Tableaus ist zu sehen, was man machen darf, wenn man selber die Aktion auswählt, bzw. was geht, wenn die Mitspielenden die Aktion aktivieren.

Ein häufiger Kritikpunkt von neuen Mitspielenden, dass wir bei ERDE einfach alle nebeneinander her spielen, bringt meine inneren Kontinentalplatten zum driften.

Entscheide ich mich zum Beispiel für Kompostieren, bekomme ich zwar fünf und die anderen nur zwei Erde. Wenn ich aber ganz solitär nicht auf die Auslagen der anderen achte, sehe ich doch gar nicht, wenn sie durch ihre Raster noch beispielsweise zwei Sprossen und zwei ihrer Handkarten kompostieren können. Und umgekehrt, wenn eine Mitspielerin immer Wachsen aussucht, warum sollte ich mich da nicht einklinken? Solitär zu spielen, ist nicht der Schlüssel zum Erfolg. Beim Kooperieren komparative Vorteile rauszuholen, das erfordert offensichtlich Interaktion nur eben keine direkte negative.

Maxime Tardif ist mit ganzem Herzen dabei, sein Lieblingsgenre um die eigene Kreation zu bereichern. Die mag nicht allen gefallen, ich hab aber die Kräuter (und Pilze) ins Herz geschlossen.

Marcus Eibrink-Lunzenauer

Maxime Tardif: ERDE für 1 – 5 Personen ab 13 Jahren, mit Illustration von M81 Studio, Conor McGoey, Yulia Sozonik, Kenneth Spond bei Skellig Games 2023, Spieldauer 45 – 90 Minuten

Dieser Text erschien in der 144. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit: Abonnieren Sie das gedruckte Magazin oder bestellen Sie das einzelne Heft.