Fairplay 140 – Rezension: The Guild of Merchant Explorers

Liga der außergewöhnlichen Würfelchen

Mit Roll-and-Write-Spielen brauch‘ ich unserem Chefredakteur nicht mehr kommen. Was für eine Masse in den letzten Jahren unsere Tische überschwemmt! Bei BGG finde ich 798 Roll- bzw. Flip-and-Write-Spiele. Davon dreiviertel aus den letzten drei Jahren. Allein dieses Heft enthält mit WÜRFELWELTEN, VOYAGES und der KARTOGRAPHIN drei weitere Exemplare. Haben Sie sich daran satt gespielt? Oder kann Sie ein Spiel noch überzeugen, wenn es mit etwas Besonderem, einem guten Hook überrascht?

Ja, THE GUILD OF MERCHANT EXPLORERS ist eindeutig ein Flip-and-Write. Oder eigentlich: Nein, TGOME ist Flip-and-Cube. Weg mit den billigen Stiften, die schmieren nur rum. Wir legen Klötzchen! Nicht einfach „L’art pour l’art“, sondern weil TGOME auch ein klein wenig Legacy ist, sozusagen Snack-size-Legacy. Das geht mit Klötzchen einfach besser.

Die Königin bittet unsere abenteuerliche Handelsgilde, dass wir alle Ecken des Reichs bereisen. Ihre Karten seien nicht mehr aktuell, und von manchen Städten höre sie schon lange nichts mehr. Also ziehen wir übers Meer, erklimmen Berge, durchqueren Wüsten und weite Graslandschaften. Und verdienen dabei immer ein bisschen Kleingeld. Wer zum Schluss das meiste davon hat, gewinnt.

Vier verschiedene Landkartensets sind in der großen Schachtel enthalten. Wir bekommen alle ein Exemplar eines Landkartensets und schon wird eine Karte vom Stapel der Erkundungskarten aufgedeckt. In der ersten Ära ist dieser ziemlich dünn. Vier Karten zeigen jeweils eine der vier Geländearten, die fünfte Karte ist ein Joker und zur sechsten kommen wir gleich noch. Ein bis drei Sechsecke sind auf den einfachen Karten abgebildet. Und ebenso viele meiner Klötzchen darf ich jetzt eins nach dem anderen auf die Hexfelder meiner Landkarte legen, immer angrenzend an einen schon liegenden Spielstein oder meine Hauptstadt. Auf der Landkarte geben mir besondere Felder Geld und Schatzkarten oder ich entdecke neue Dörfer.

Diese Dörfer sind der Kern dessen, was TGOME reizvoll macht. Zusammenhängende Hexfelder derselben Geländeart bilden eine Region. Wenn ich das letzte Feld einer Region mit einem Klötzchen bestücke, entdecke ich in dieser Region ein Dorf und tausche als Zeichen dafür eines der Klötzchen gegen einen Dorfspielstein aus. Das ist der Clou! Sobald ich die letzte Erkundungskarte aufgedeckt habe, endet die erste von vier Ären. Dann werden alle Klötzchen vom Plan geräumt. Nur nicht die Dorfspielsteine! Hätte ich keine Dörfer entdeckt, müsste ich in der nächsten Ära wieder von vorn anfangen. Doch mit den Dorfspielsteinen? Darf ich Klötzchen auch von dort aus anlegen. Viel Geld bringen die Dörfer nicht, da sind Handelsrouten, also durch Klötzchen miteinander verbundene Städte, lukrativer. Aber für die strategische Planung sind Dörfer der Schlüssel.

Eine der Erkundungskarten hatte ich bisher unterschlagen: Decke ich eine Ärakarte auf, ziehe ich zwei von fast 30 Superkraftkarten, wähle eine davon und führe diese aus. In der ersten Ära enthält der Stapel der Erkundungskarten nur die Ärakarte mit der römischen Eins. In der zweiten und dritten Ära kommen dann die Ärakarten „II” bzw. „III” hinzu, die mir zwei weitere Superkräfte bringen. Und in der vierten Ära wird früher oder später der Superkraftjoker, die „I/II/III”, aufgedeckt. Die Superkräfte haben es in sich. Mit ihnen kann ich unter bestimmten Voraussetzungen vier, fünf, sechs oder mehr Hexfelder gleichzeitig belegen.
Wie bekomme ich Geld? Die Dorfgründung bringt immer einen Kleckerbetrag. Auf manchen Feldern sind Münzen abgebildet sind, die ich beim Belegen einsammele. Je mehr Türme ich besuche, umso lauter klingelt die Kasse. In Ruinen und Schiffswracks finde ich Schatzkarten. Städte haben einen Wert von zwei bis fünf. Verbinde ich zwei davon, erhalte ich das Produkt beider Werte als Geld. Und dann gibt es noch die Missionen: Spezifisch für jedes Landkartenset werden zu Beginn drei Missionen ausgelost. Erfülle ich die Bedingung einer Mission vor allen anderen, besuche ich zum Beispiel drei Ruinen am Rand der Karte, erhalte ich 10 Geld, ansonsten immerhin noch 5.

Die vier Landkartensets unterscheiden sich im Spiel spürbar. Obwohl sie in nur wenigen Regeldetails voneinander abweichen, genügen zu diesem Zweck die topografischen Unterschiede, wie groß im Durchschnitt Regionen sind, wie sehr Wasserfelder die Landkarte durchfurchen. Spaß macht es aber trotzdem, auf Kazan, hinter unpassierbaren Vulkanen, reichlich Reichtümer abzusahnen oder in Cnidaria Sonolux-Kristalle einzusammeln.

TGOME könnte ich mit 100 Menschen spielen, die Spielzeit würde nicht leiden. Klarer kann ein Spiel nicht signalisieren, dass seine Spielregeln fast keine Interaktion festschreiben. Die 3×5 Punkte mehr beim Wettstreit um die Missionen könnten Kopf-an-Kopf-Rennen entscheiden, dafür müssten wir aber durch die geheimen Punktestände sehr genau bei den anderen mitzählen. Am Spieltisch selbst habe ich aber nie erlebt, dass alle nur für sich puzzeln. Da wird kommentiert, gezetert und einander geholfen. Da werden die Superkraftkarten der anderen beneidet und die eigenen zelebriert. Es kommt doch immer auf die entsprechende Spielrunde an. Manchmal passt die überaus direkte Interaktion von einem BLOOD RAGE gut und manchmal darf es gerne sanfter wie hier sein. Sanft aber nicht seicht! Ich weiß genau, welche Erkundungskarten noch kommen und wo ich erwarten kann, ein dringend benötigtes Dorf für die nächste Ära zu gründen.

Durch die vier Ären hebt sich TGOME aus der Schwemme der Flip-and-Write-Spiele hervor. Nach jeder Ära den Fortschritt bis auf die Dörfer zurückzusetzen und neue Superkräfte zu erhalten, ist thematisch nicht einleuchtend, aber die Dramaturgie überzeugt. Engine-Builder fühlen sich ähnlich an, weil wir von Ära zu Ära mächtiger werden. Mit Stiften statt Klötzchen hätte das in der Handhabung nicht funktioniert. Die Entscheidung, TGOME über vier Ären laufen zu lassen, trifft für mich genau die richtige Spieldauer, erfordert aber auch eine bestimmte Anzahl Hexfelder der Landkarten. Damit es nicht zu friemelig wird, wenn wir darauf Klötzchen verteilen, bedingt das aber auch die Maße der Landkarten und damit die Entscheidung, TGOME in einer üblichen quadratischen Big-Box-Schachtel aufzulegen. Dennoch rufen Größe und auch Preis Erstaunen hervor, weil es doch „nur“ ein Flip-and-Write sei. Wenn meine Spielrunden Lust auf Flip-and-Writes haben, würde ich kein anderes lieber vorschlagen. Ich mag dieses Genre nach wie vor und genieße diese Form der Interaktion am Spieltisch.

Marcus Eibrink-Lunzenauer

Matthew Dunstan und Brett J. Gilbert: THE GUILD OF MERCHANT EXPLORERS für 1 – 4 Personen ab 14 Jahren mit Illustration von Gerralt Landman bei Alderac Entertainment Group 2022, Spieldauer 45 Minuten

Dieser Text erschien in der 140. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit: Abonnieren Sie das gedruckte Magazin oder bestellen Sie das einzelne Heft.