Fairplay 133 – ausSCHACHtungen: Onitama

Erlesenes Ausleseverfahren

Das soll eine Schachvariante sei?! Ja, doch, durchaus – im Miniaturformat zumindest. Immerhin kennt ONITAMA auf jeder Seite eine Hauptfigur, den Meister, dessen Verlust die Niederlage bedeutet. Und obgleich seine vier Gefolgsleute, die Schüler, alle denselben Rang bekleiden, lässt sich von einer, wenn auch extrem flachen, Figurenhierarchie sprechen.
Dass das Terrain auf gerade einmal 25 Felder reduziert ist, spielt keine Rolle. Dünn könnte die Luft dagegen deshalb werden, weil sich das Schrittmuster des Meisters nicht von dem seiner Schüler unterscheidet, wie dies beim SCHACH und, soweit erkennbar, auch sämtlichen seiner Varianten der Fall ist. Indessen unverzichtbar erscheint dieser Unterschied nicht. Während oftmals neue Schrittmuster für weitere Figuren kreiert werden, besteht hier die Neuerung eben darin, dass Herrscher und Untergebene im Gleichschritt marschieren.

DIe offene Schachtel von ONITAMA – Foto: pen


Wobei Gleichschritt nun nicht etwa bedeutet, dass sämtliche Figuren stets demselben Schrittmuster zu folgen haben, was auch ziemlich eintönig wäre. Vielmehr stehen den beiden Kontrahenten jeweils zwei Karten mit unterschiedlichen Mustern zur Auswahl, die sie nach Belieben für jede ihrer Figuren nutzen können. Zwar ist die Reichweite den beengten Platzverhältnissen entsprechend sehr begrenzt. Doch da auf die Zielfelder gesprungen wird, bilden dazwischen stehende Figuren wie beim Rösselsprung im SCHACH kein Hindernis.


Der Clou dabei ist, dass eine ausgespielte Karte nach dem Antwortzug des Gegners in dessen Besitz übergeht, während man den eigenen Bestand sofort mit der ebenfalls offen ausliegenden fünften Karte wieder auffüllt. In diesem neuartigen Prinzip rotierender Schrittmuster lässt sich eine Art permanenter, vom Gegner vollzogener Auslese sehen, für die sich in Ermangelung eines besseren Begriffs die denglische Bezeichnung Powerdrafting anbietet.
Hierbei gilt es, in jedem Zug Drohpotential und kurzfristigen Nutzen einer Karte gegen die Risiken abzuwägen, die aus ihr in der Hand des Gegners in Verbindung mit dessen zweiter Karte erwachsen, und zugleich abzuschätzen, wie lange es dauern mag, bis man wieder über sie wird verfügen können. Trotz vollständiger Information beschränkt sich die Rechentiefe auf drei oder vier Halbzüge, weil sich ja bloß mehr oder weniger spekulieren lässt, welches Schrittmuster einem der Gegner mit seiner Antwort für den übernächsten Zug zugestehen wird.

Onitama: Senseis Weg – Bild: Pegasus


Alternativ zum Schlagen des gegnerischen Meisters genügt es, dessen Startfeld mit dem eigenen zu betreten. Eine gern verwendete Option, um zu offensiver Spielweise zu animieren, weil der Angreifer den Vorteil genießt, die Stoßrichtung auf die schwächere Stellung seines Gegners zu lenken. Sich auf seinem Startfeld einzuigeln, wird diesem kaum dauerhaft möglich sein, wenn sich seine Reihen erst einmal spürbar gelichtet haben, was bei lediglich vier Gefolgsleuten schnell passieren kann. Da aus einem Pool von 16 Karten gerade einmal fünf zum Einsatz kommen, ist für ein hohes Maß an Abwechslung gesorgt. Dieses ist durch die ebenfalls 16 Karten aus der Erweiterung SENSEIS WEG geradezu explosionsartig vergrößert geworden. Schön ist zudem, dass gerade auch die Zahl der Karten mit Schritten, die über benachbarte Felder hinausreichen, deutlich erhöht worden ist. Dies ist offensiver Spielweise förderlich, weil dadurch die Gefahr reduziert wird, vorzeitig in ein Handgemenge zu geraten, das zumeist auf einen Abtausch hinausläuft, ohne einen nennenswerten Stellungsvorteil zu bringen.

Die zweite Erweiterung WAY OF THE WIND wartet mit einer neutralen Figur auf. Diese vermag zwar auch den Vorgaben einer normalen Karte zu folgen, wird aber bei Einsatz einer speziellen Windkarte zusätzlich zu einer herkömmlichen Figur nach eigenen Schrittmustern bewegt. Außerdem tauscht der Windgeist gegebenenfalls seinen Platz mit einer Figur auf seinem Zielfeld, ohne seinerseits auf diese Weise wegversetzt werden zu können.
Dies bringt im wahrsten Sinne des Wortes frischen Wind ins Geschehen. Allein schon die Möglichkeit, für einen normalen Zug auf eine neutrale Figur auszuweichen und dadurch eine wichtige Position zu halten, wirkt entlastend. Auch lassen sich mit dieser Figur Vormarsch oder Rückzug des Gegners blockieren.
Noch wertvoller ist es, mithilfe des Windgeistes den Aktionsradius der eigenen Figuren zu erweitern oder Figuren des Gegners aus dessen Stellung herauszubrechen. Bei einer solchen Entführung ist freilich größte Vorsicht geboten, will man sich nicht unversehens selbst ins Knie schießen, wie dies zur Dramaturgie eines jeden „James Bond“-Films gehört.
Der Anteil an Windkarten kann nach Belieben variiert werden. Auf jeden Fall empfiehlt sich im Interesse eines abwechslungsreicheren Ablaufs, nicht nur diese, sondern auch die Karten aus Grundspiel und erster Erweiterung gezielt auszuwählen und ihre Zusammensetzung nicht völlig dem Zufall zu überlassen. Bei einem Fundus von nunmehr insgesamt 42 Karten sollte dies auch dauerhaft kein Problem bereiten.


ONITAMA belegt bei BGG derzeit einen respektablen 13. Platz im Bereich der abstrakten Denkspiele – unmittelbar hinter GO. Offenbar wird das unvermeidliche Zufallsmoment bei der Startverteilung der Karten nicht als störend empfunden. Weitaus intensiver dürfte ohnehin der Genuss des erfrischend originellen Spielelements einer permanenten Kartenauslese zulasten des Gegners zu Buche schlagen. Es bereitet einfach diebisches Vergnügen, mithilfe ständig wechselnder Schrittvorgaben Druck auf die gegnerische Stellung aufzubauen und auf diesen unbekannten Pfaden zumindest einer der beiden Siegbedingungen kontinuierlich näher zu kommen.


Gemäß der Angabe auf dem Deckel des japanischen Originals soll eine Partie in fünf Minuten über die Bühne gehen können. Demgegenüber räumt die deutsche Ausgabe dafür immerhin 15 bis 20 Minuten ein. Auch dies reicht oft nicht aus und hängt letztlich davon ab, wie ausgiebig nachgedacht und wie offensiv agiert wird. Grübelstarre ist jedenfalls kaum zu befürchten. Notfalls hilft der Einsatz einer Schachuhr etwa dergestalt, dass sofort verliert, wer auf ein Plus von ein, zwei Minuten Bedenkzeit kommt.
Die kompakte, mit einem Magnetverschluss versehene Schachtel im Format eines aufrecht stehenden Quaders passt zum ungewöhnlichen Charakter des Spiels. Der gleiche Aufwand für die deutlich kleineren Erweiterungen scheint dagegen übertrieben. Für diese hätte eine kostengünstigere, leicht zu entsorgende Sichtverpackung genügt, da sich auch das zusätzliche Material in den Fächern des Grundspiels mit verstauen lässt. [L.U. Dikus]


Shimpei Sato: ONITAMA für 2 Personen mit Illustration von Jun Kondo und Mariusz Szmerdt bei Pegasus Spiele 2017, Spieldauer 15 – 20 Minuten

Dieser Text erschien in der 134. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 24 Euro im Jahr.