Editorial 127

Liebe Leserinnen und Leser,

wie konnte das nur passieren!? Wir haben einen Abonnenten verloren. Einmal Fairplayer, immer Fairplayer, so geht das doch. Aber der Mann kam in Essen an den Stand und hat sich bitter beklagt, dass, wenn keine schönen Verrisse mehr folgen, er kündigen werde. Tja, eigentlich eine sichere Bank für uns, dem Mann ist zu helfen. Zumal er auch noch Autor ist und einige seiner Spiele bei uns schon Verrisse kassiert haben, worauf er sogar ausdrücklich hingewiesen hat. Macht ja nicht nur gute Spiele, der Mann. Ich hätte ja nicht übel Lust gehabt, eines seiner aktuellen Spiele zu verreißen. Aber was soll ich machen? Erstens schreibe ich nicht und zweitens gibt es genügend gute empfehlenswerte Spiele. Da müssen wir uns doch nicht mehr um den Ausschuss kümmern. Jedes Spiel ist heute aus verschiedensten Gründen – und sei es nur ein Haufen Miniaturen – spielenswert. Es geht da doch nur noch um Nuancen, um Geschmack, aber nur noch in seltensten Fällen um dicke handwerkliche Fehler in der Spielmechanik. Haben sich Verrisse überlebt?

Eigentlich ja nicht, und ich bin immer dafür zu haben, auch mal den dicken Hammer herauszuholen. Der Ex-Abonnent könnte in dieser Ausgabe noch einen halben Verriss zu einem seiner Spiele lesen, aber das wird ihn eh nicht mehr tangieren. Vielleicht eher seine Elisabeth, wobei ich ad hoc nicht einschätzen will, ob es sich dabei um seine Frau oder Mutter handelt. Elisabeth hießen in meiner Jugend nur die Mädchen aus sehr katholischen Familien oder deren Mütter. Ich täte ja auf Mutter tippen, denn das Spiel ist schon sehr für Rentner gemacht. Sei’s drum, kriegt er ja nicht mit.

Woher also Verrisse nehmen und nicht stehlen? Die einfachste Lösung: Die Messlatte muss rauf. Kleinste Verfehlungen gleich tüchtig abstrafen. Optische Missetaten anprangern. Thematische Fehlgriffe abkanzeln. Merken Sie’s?! Ist irgendwie bemüht. Einen guten Verriss aus lauter Vorsatz zu schreiben, wird nur in seltensten Fällen gelingen. Ich kenne da aber Kandidaten, die würden jeden THE MIND – Ableger niedermachen. Schon aus Prinzip. Die Gründe dürften Sie kennen.

Jetzt bin ich immer noch keinen Schritt weiter. Vielleicht sollten wir uns die Spiele des Autors doch nochmal genauer anschauen. Ach komm, das wäre doch nur nachtreten. Und lesen kann er die Verrisse ja auch nicht mehr, also verlorene Liebesmühe. Da fällt mir doch noch was ein. Wir hatten doch in der 125 einen Verriss von DIE QUAKSALBER VON QUEDLINBURG. Hat der Mann wohl nicht gelesen, so wie einige knackige Anmerkungen auf den Zettelchen unter den Rezis. Verpasst – das muss ich leider zugeben – haben wir einen Verriss von FRANTIC. Mann, finde ich das Spiel bescheuert. So unterschiedlich können die Geschmäcker sein.

Insgesamt stelle ich sowieso fest, dass sich kaum einer mehr so wirklich einen harten Verriss zutraut. Zu viel Gegenwind? Natürlich wird, wer sich in den Wind stellt, auch angeblasen. Sehr direkt oder auch subtil. Dass uns ein Verlag dann Rezensionsmuster vorenthält, gibt’s nur selten, ist aber auch egal. Es deshalb jedem recht zu machen, ist aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Müssten wir dann ins Influencer-Marketing einsteigen? Tut mir leid, da sind wir raus. Wir sind hier schließlich alle Anarchisten. Zumindest auch ein paar Juristen.

Und zu allem Überfluss: Es gibt zu viele und zu gute Spiele, als dass sich heutzutage noch jemand die Mühe macht, ein wirklich schlechtes Spiel genauer zu ergründen. Sicher gibt es da auch Ausnahmen, wenn zum Beispiel das Pendel zu sehr in die verkehrte Richtung schlägt und ein Spiel hochgejazzt wird und damit eine gewisse Fallhöhe erreicht. Ich denke da gerade an das Nonsens-Spiel L.A.M.A. von Dr. Knizia, das sich herrlich zum Grölen eignet, aber sonst ganz flach ist. Hat also Herr Knizia an Niveau verloren? Bin gespannt, wie das Spiel demnächst rezensiert wird. Na gut, ich habe beim Spielen auch schon mitgegrölt. Ganz so gruselig kann’s nicht sein, aber außerordentlich ist es ganz gewiss nicht. Auch wenn ein Ex-Stallbursche es tatsächlich genauso sieht. Und der Mann hat in jungen Jahren bei uns sooo schöne Verrisse geschrieben. Soll er mal in meinen Stall kommen, jetzt wo er ein reifes Alter erreicht hat.

Ah, jetzt weiß ich, warum es so selten noch Verisse gibt. Die Szene ist mittlerweile gealtert und schon altersmilde geworden. Keine Aufregung mehr, es läuft doch alles schön friedlich, und genügend Auswahl ist doch sowieso. Und der Nachwuchs?! Kennt doch nur noch gute Spiele. Warum also Verrisse? Weiß ich doch auch nicht. Aber lesen täte ich sie doch gerne. Schreiben Sie uns einen?

Ihr Harry