Editorial 117

Liebe Leserinnen und Leser,
Verdammt! Ist es wirklich wieder schon so spät? Die lnternationalen Spieletage in Essen stehen gänzlich unvermutet wieder vor der Tür?! Ist der Spielejahrgang wirklich schon durch? Als Printmedium haben wir für die aktuellen Messeneuheiten einen zu langen Vorlauf … manchmal auch nicht.
lst doch jedes Jahr derselbe Rhythmus. Mit dieser Nummer ist der Kehraus fällig. Und in meinem Stall stellt sich wie jedes Jahr die Frage: Womit füllen wir jetzt noch unser Heft? Alle Toppspiele sind längst besprochen, alles erwähnt und kritisiert. Wir haben für Sie wieder alles zusammengekehrt, was noch übrig geblieben ist. Stopp! So geht’s ja nicht. Erstaunlicherweise finden sich immer noch ein paar gute Spiele, die uns tatsächlich bislang durch die Lappen gegangen sind. Gut, dass meine Knechte den Jahrgang im Blick haben. Wir haben die Lücken dann doch noch auf den letzten Drücker füllen können. Mensch, wir sind doch verdammt profffesssionelll.
Ach, die Jury hat ja auch gesprochen. Das Ergebnis hat mich dann doch überrascht, und das sogar doppelt. Ich hatte fest damit gerechnet, das PANDEMIC LEGACY oder zumindest T.l.M.E STORIES den grauen Pöppel gewinnen würde. Und natürlich, dass Haba als Newcomer im Bereich jenseits von Kinderspielen ebenfalls für ARUBA ausgezeichnet wird. War wohl nix. Die Glückwünsche gehen an die Macher von CODENAMES und ISLE OF SKYE. Wenn Sie jetzt fragen, welcher Titel davon den roten und welcher den grauen Pöppel erhalten hat, finden Sie sich in guter Gesellschaft. Nämlich in meiner. Ob das eine nun den roten und das andere Spiel den grauen Pöppel gewinnt, macht für mich dieses Jahr so gar keinen Unterschied. Für mich altes Pferd ist ISLE OF SKYE eher ein rotes und CODENAMES eher ein graues Spiel.
Wächst wieder zusammen, was einst getrennt werden sollte? Wo ist denn bitte dieses Jahr die Trennlinie? Ich vermag es nicht zu erkennen, denn beide Spiele bewegen sich auf Kennerniveau. Für die Familie ist beides eher anspruchsvolle Kost, wobei ISLE OF SKYE immerhin noch bewährten Pfaden folgt. So ein Legespiel kennt man ja irgendwie.
Die Frage für den nächsten Jahrgang lautet also: Gibt es demnächst wieder zwei Kennerspiele für das längst nicht mehr separierte Spielevolk. Tom Felder als Vorsitzender der Jury hat zwischen Spielen für „alle Leute“ und für „Menschen, die schon etwas erfahrener im Erlernen und in der Anwendung von Spielregeln“ sind, differenziert. Es geht nicht mehr um die bislang beschworene Familie. Alle Leute sind alle Leute, da ist keine Abstufung beim Anspruch mehr erforderlich. Rot ist das neue Grau. Allerdings ist bei der Wahl der beiden Preisträger wohl entscheidend, in welchen Kreisen sich die Jury bewegt und in welchem Milieu deren Alltag spielt.
Im Internetzeitalter hält uns Google maßgeblich in einer Blase, der man, ohne sich dessen bewusst zu werden, nur schwer entrinnen kann. Egal, wonach man sucht, Google weiß schon, was wir mögen. Man bekommt Ähnliches vorgesetzt, weil es doch viel schöner ist, seine Meinung und Vorlieben bestärkt zu bekommen. Ist das vielleicht auch ein Prozess, der in der Jury abläuft? Sind da nicht zu viele Vielspieler vereint? Zu viele akademische Männer, die mittlerweile von und durch die Szene beeinflusst werden? Spielen nicht sowieso überproportional viele Akademiker Gesellschaftsspiele? Ich denke schon, wobei diese Szene traditionell eher zu anspruchsvoller Kost neigt.
Die Messe in Essen dürfte wieder von Spielen auf diesem Niveau wimmeln. In unserer Scout-Aktion wird diese Vorliebe bislang zuverlässig abgebildet. Wir leben also allesamt in der sich selbst bestärkenden Blase, dass anspruchsvolle Spiele auch gute Spiele sind. Sind sie meistens, ist ja unbestritten. Aber manches Mal sollten wir über den Tellerrand blicken. Mal ohne Vorurteile mit nicht so erfahrenen Spieler spielen, deren geringe Ansprüche ernst nehmen, sie nicht mit seitenlangen Regeln erschlagen … Wer macht das schon? Ich weiß, das ist anstrengend. Aber ich weiß auch, wer das macht. Verlage, die für den – für uns eher negativ belegten – Massenmarkt produzieren, sind darauf angewiesen, die Ansprüche der Gesellschaft als Ganzes zu bedienen. Leute – Gesellschaft sind nicht nur wir Vielspieler!

Wir sehen uns in Essen

Ihr Harry

p.s.: Unsere Scout-Aktion läuft wieder, bitte denken Sie an lhren Scout-Ausweis.