Fairplay 119 – Rezension: Raiders of the North Sea

Plündern ohne Faxe und Sven Glückspilz

Scheinbar braucht so ein Wikinger nicht viel, um sich auf den Außenhandel vorzubereiten. Alles, was er beruflich benötigt, findet sich in an wenigen Plätzen im heimischen Dorf. In der Mühle gibt es den Proviant, in der Rüstkammer und der Schmiede Waffen, in der Baracke und im Torhaus eine neue Mannschaft. Mehr bedarf es nicht, um den Festungen, Häfen und Klöster jenseits der eigenen Scholle den Garaus zu machen. RAIDERS OF THE NORTH SEA ist im Spielgeschehen eine überschaubare Sache und wird weder Spieleprofis noch -anfänger vor Probleme stellen.

Wir sind hier im Bereich gemäßigt anspruchsvoller Familienspiele. Regellektüre und Erklärungen gelingen problemfrei. Anfangs mag die Doppelfunktion der Wikinger-Spielkarten vielleicht eine kleine Hürde sein und vielleicht muss ab und zu an die erlaubte Höchstgrenze in Sachen eigener Vorräte erinnert werden. Aber eigentlich ist alles bei RAIDERS OF THE NORTH SEA überschaubar einfach, und so flutscht das Spiel ohne Regeldiskussionen.

Neuautor Shem Phillips hat sich sein Spiel am anderen Ende der Welt (in Neuseeland) ausgedacht und auch bei Graphik und Design selbst Hand angelegt. Das Gesamtergebnis kann überzeugen – mit kleinen Abzügen in der B-Note. Richtig gut gelungen ist die Mechanik des Figureneinsatzes. Als Bäumchen-Wechsel-Dich setzt man seine einzige Arbeiterfigur in ein Dorfgebäude, macht die dazugehörige Aktion und nimmt an einem anderen Gebäude einen dort stehenden Arbeiter weg und macht auch diese Aktion. Der Gimmick daran ist die Reihenfolge: Erst die Aktion beim Platzieren, danach die zweite Aktion durch das Wegnehmen, was den Spieler häufig verzweifeln lässt, da die eigenen Planungen nur umgekehrt funktionieren.

So ungefähr ab sechsten Runde wird man das Dorf mit seinen Aufbauaktionen verlassen wollen und Richtung Plünderungen westwärts schreiten. Zwar halbiert so eine Plünderung die Möglichkeiten auf nur noch eine statt zwei Aktionen, dafür aber bekommt man die dort am Platze liegende „Beute“ und eventuell auch noch wenige bis viele Siegpunkte.

RAIDERS OF THE NORTH SEA kommt übrigens in einem Spielschachtelformat daher, wie ich es in meiner Sammlung bislang noch nicht habe: 22 cm im Quadrat. Viel kleiner als Siedler, aber viel größer als z. B. die „Spiele für 2“-Reihe. Drinnen der vielfach gefaltete, massive und sofort planliegende Spielplan. Und dann noch diese netten Spielkarten mit Zeichnungen von Nordmännern und -frauen als feiner Comic-Mix aus Hägar und Wickie. Es ist wirklich schon mehr als 40 Jahre her, als Wickie („Hey hey Wickie! Hey Wickie, hey!“) donnerstags kurz nach Fünf in mein Leben trat. Kennen sie noch Snorre, Faxe und den schrecklichen Sven? Wikinger Nummer zwei trat ungefähr zeitgleich auf: „Hägar der Schreckliche“. Eine Comicfigur der besonderen Art. Hägar, das ewige Kind im Manne, seine Frau Helga, Sohn Hamlet, Hund Snert, Ente Kwack, Bruder Olaf, Schmutzfink, Dr. Zook und meinem Favoriten: Sven Glückspilz. Wenn ich mal ganz hinten im Keller nachschaue, werde ich vielleicht auch noch ein Hägar-Buch finden.

Der Spielplan von RAIDERS OF THE NORTH SEA präsentiert uns mit viel Grün und Blau eine Küstengegend und dient im Wesentlichen zur Platzierung hölzerner Kleinteile. Sie werden vor Spielbeginn aus dem schwarzen Beutel gezogen und so zur Beute zukünftiger Plünderungen: Vieh, Proviant, Eisen, Gold und Walküren. Walküren? Die passen nun gar nicht in die Beutereihe, aber Autor Phillips wahr wohl auf der Suche nach etwas, was man als plündernder Barbar leider in Kauf nehmen musste: Verluste in den eigenen Reihen. Also machen diese Walküren jedem am Tisch das Plündern ein bisschen schwerer. Walküren befördern eigene Krieger in die ewigen Jagdgründe: Nach Walhalla.

Die Wahnsinnigen am Tisch (oder Spielanfänger) sammeln ganz gezielt Walküren ein, denn wer Sieben hat, wird am Spielende immerhin 15 Siegpunkte bekommen. Klingt toll, ist es aber kaum, denn zum Sieg werden ungefähr viermal so viele Punkte benötigt. Mein Rat: Spielen sie keinesfalls gezielt auf diese Walküren. Gehen sie ihnen aus dem Weg, wo sie nur können. RAIDERS OF THE NORTH SEA ist schneller vorbei, als man denkt und die Walküren bremsen die eigenen Plünderungsbestrebungen empfindlich aus. Man verliert Tempo und da sich laut Regel und Spielplan höchstens sieben Walküren lohnen, ist deren Effekt für die eigene Spielentwicklung eher mager bis überflüssig. Also: Finger weg von den Walküren. Vor allem im Spiel zu zweit.

Was müssen wir bei RAIDERS OF THE NORTH SEA im eigenen Zug erledigen? Nun, anfangs geht man einige Runden im Dorf einkaufen, um sich eine prima Mannschaft leisten zu können. Zwar kann man bereits mit nur zwei Wikingern in der näheren Umgebung auf Beutezug gehen, aber da uns die Wege zu den weiter oben liegenden Klöstern, Häfen und Festungen überhaupt keine Zeit kosten, kann man auch sofort diese für erste Brandschatzungen ins Auge fassen.

Plünderungen gelingen immer. Lediglich eine bestimmte Mannschafts- und Proviantgröße müssen vorhanden sein, um die zwei, drei oder vier Beutestücke einsacken zu können. Diese Beute benötigt man, um daraus über den Umweg der so genannten „Darbietungen“ im Dorf zwei bis sechs Siegpunkte zu kassieren. Dieser Zeitverlust ärgert, denn wir wollen in unserem Spielzug doch viel lieber an der eigenen Mannschaftsstärke weiterschrauben. Also lassen wir diese Darbietungsplättchen, wo sie sind und konzentrieren uns auf den eigentlichen Daseinszweck eines Wikingers: Plündern.

Denn nur beim Plündern können wir klotzen statt kleckern. Bis zu zwölf Siegpunkte warten auf den, der mit großer Stärke zu Werke gehen kann. Je mehr militärische Stärke, desto weniger sind wir abhängig vom Zufall (Würfelwurf bei angesagter Plünderung). So ein Beutezug ist ganz simpel: Man sagt in seinem Zug an, was man überfallen will, überprüft, ob die notwendige Mannschaftsstäke vorhanden ist, gibt die verlangten Proviantsäcke ab und hat damit bereits die dort liegende Beute gewonnen. Um zu schauen, wie viele Siegpunkte man für seine Plünderung erhält, wird die militärische Stärke ermittelt. Sie ergibt sich aus den Kartenwerten der eigenen Wikingerkarten, mögliche Sonderfähigkeiten Einzelner, der Menge an bislang gesammelter „Rüstungsstärke“ und der einzigen Unwägbarkeit: Einem Würfelwurf. Aber selbst wenn der Würfel kaum etwas zur Stärke beitragen mag: An 15 von insgesamt 26 Plätzen lassen sich mindestens vier Siegpunkte verdienen. Die neun siegpunktschwachen Orte („Häfen“) bringen dafür mehr Beutestücke.
RAIDERS OF THE NORTH SEA spielt sich zügig und recht schmerzfrei. Schlechte Züge und miesen Ertrag gibt es nicht. Stets geht es voran, lediglich die Walküren sorgen für kurze Rückschritte. Das Spiel ist sympathisch, der Spielaufbau verspricht stets neue Varianz, und alles mag zufriedenstellen. Jeder, der RAIDERS OF THE NORTH SEA erstmals mit mir spielte, fand das Spiel richtig gut. Bei mir aber stellt sich mittlerweile die Sättigung ein. Es gibt nur einen Weg Richtung Spielsieg: Plündern wo es nur geht. Meine Versuche, das Spiel über die Wallküren plus Darbietungen zu gewinnen, sind kläglich gescheitert. Daher mein Abzug in der B-Note: Eine Spielbalance der verschiedenen Siegpunktmöglichkeiten habe ich noch nicht entdecken können.

Zwei Erweiterungen zu RAIDERS OF THE NORTH SEA sind für 2017 geplant. Mit „Halle der Helden (Hall Of Heroes)“ und „Felder der Ehre (Fields of Fame)“ gibt es je einen Zusatzplan zum heimischen Dorf und für weite Kaperfahrten. Hinzu kommen Möglichkeiten, bereits ausgeraubte Plätze erneut zu brandschatzen oder mit Alkohol („Met“) eine Art Zaubertrank mit besonderer Stärke zu erlangen. Und mit den „Jarls“ kommen die männliche Ergänzung zu den „Walküren“ im Grundspiel. Und mit „Shipwrights of The North Sea“ und „ Explorers of The North Sea“ stehen zwei in Sachen Grafik und Thema sich direkt anschließende Spiele in den Startlöchern, um die „Nordsee-Saga“ zu komplettieren.

Dieter Niehoff

Shem Phillips: RAIDERS OF THE NORTH SEA für 2 – 4 Personen mit Illustration von Mihajlo Dimitrievski bei Garphill Games und Renegade Game Studios 2017, Spieldauer 60 – 80 Minuten

Dieser Text erschien in der 119. Ausgabe des Fairplay Magazins. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für 24 Euro im Jahr.