Editorial 104

Liebe Leser,

steckt in Ihnen ein Spieler oder eher ein Jäger und Sammler? Suchen Sie in Essen jedes Jahr aufs Neue den Heiligen Gral unter den Spielen? Falls ja, dann sind Sie sicher seit einiger Zeit auf den einschlägigen deutschen und amerikanischen Crowdfunding-Seiten im World Wide Web aktiv. Für einen richtigen Jäger und Sammler führt kein Weg mehr daran vorbei, wenn er das beste Spiel haben will … oder eines, dass nicht jeder hat. Wie viel Geld haben Sie dafür schon ausgegeben? Waren es Euro oder sogar Dollar? Prangt Ihr Portrait gar an prominenter Stelle auf einer Schachtel? Und sind Sie mit den erworbenen Spielen glücklich, haben Sie Ihren Gral gefunden?

Kommen Sie, Sie müssen mir nichts vormachen, mir nicht erzählen wie toll und einzigartig Ihr mit „strech goals“ aufgehübschtes, teuer erstandenes Spiel ist. Wie viel Geld haben Sie dafür beim Zoll gelassen? Ich kenne das alles, war selbst Jäger und Sammler, sonst hätte ich nicht Jahr um Jahr meine Redaktion geknechtet, die besten Spiele für Sie und mich zu finden.

Bin ich immer noch so verrückt? Ich sach‘ mal so: Ein alter Gaul darf es ruhiger angehen lassen. Außerdem bin ich aus Schaden klug geworden, als ich mich zu einer Vorabzahlung hab‘ hinreißen lassen. Das Geld für EXPRESS 01 kann ich echt abschreiben. Und das sage ich hier ausdrücklich als alter Eisenbahner. Wär‘ ich kein Pferd, ich wäre heute Schienenleger.

Aber wie finde ich nun die besten Spiele, die wie Pilze aus dem Crowdfunding-Unterholz schießen, als gäbe es kein Morgen. Wie trennt man da anhand von Videos, Beschreibungen, Regeln die Spreu vom Weizen? Sollten meine Mädels und Jungs Wetten auf die einzelnen Spiele abschließen, so wie sie das mit den Nürnberg-Neuheiten machen? Getreu dem Motto: Was hat der Verleger, der Autor schon vorab an Spielen erschaffen? Mmh, ist schwierig, denn immer mehr zweit- oder drittklassige und sogar gänzlich unbekannte Autoren und Verleger mischen da mit, wittern gute Chancen, ihren Traum vom Spiel zu verwirklichen oder das schnelle Geld einzufahren. Die Spreu trennt sich erst vom Weizen, wenn das Spiel gespielt wird. War’s ein Griff ins Klo oder doch das beste, das tollste, das genialste Spiel?

Was ich allerdings sehe, ist dass erfolgreiche Kleinverleger diesen Weg der Vorabfinanzierung beschreiten. In Essen gibt’s ja die bekannten Verlage, denen die Spiele aus der Hand gerissen werden, um sie anschließend mit Gewinn zu verkaufen. Also, liebe Fragors und Co.: Wann startet ihr durch? Euer Kollege Martin Wallace macht es euch doch gerade vor. Für sein A STUDY IN EMERALD lege sogar ich Geld auf den Tisch. Warum solltet Ihr den Ebay-Verkäufern Eure Spiele in den Rachen schmeißen, wenn Ihr die Kohle komplett selbst einfahren könntet? Und jeder bekäme sein Spiel, auch wenn er nicht nach Essen kommt.

Und was machen wir mit Crowdfunding-Spielen? Besprechen wir nachträglich solche Spiele, deren Auflage komplett verkauft ist? Wozu noch auf ganz vielen Seiten schreiben, dass EXPRESS 01 kein und A STUDY IN EMERALD (hoffentlich!) ein gutes Spiel ist? Oder sollten wir es so machen, wie der amerikanische Video-Rezensent Tom Vasel, der gegen Geld Prototypen bespricht, die gerade in der Finanzierung stecken? Oder vertrauen wir darauf, dass der eine oder andere professionelle Verlag sich eines heiligen Grals annimmt, und wir das Spiel dann immer noch besprechen können? Oder verblasst sofort der Glanz des Grals, wenn es dasselbe Spiel auch fürs gemeine Spielervolk gibt? Aber warum sollte ein Spiele-Verlag so ein Spiel überhaupt noch produzieren? Die Zielgruppe hat’s doch längst gekauft.

Viele Fragen, noch keine Antworten

Ihr Harry