Editorial 115

Liebe Freundinnen und Freunde,

Herzlich Willkommen zur Neuausgabe von „Wie ich die Welt sehe.“ Klar, ich habe meine ganz persönliche Brille auf, eines aber ist deutlich zu erkennen: Unsere heile Spielewelt hat sich stark verändert. Sie ist schließlich längst groß, vielfältiger, aber auch ein wenig rau geworden. Unsere Spielewelt hat sich Jahr um Jahr weiter über den Globus ausgedehnt, was gewisse Veränderung bewirkt. Aus aller Herren Länder kommen neue Spiele, neue Verlage und neue Mitspieler. Und alle haben so ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Spielen, ihren eigenen Blick auf Spiele und Spieler.

Was ja per se ziemlich gut ist. Manches Spiel ist immer noch Mainstream, andere nur für bestimmte Zielgruppen gemacht. Auf jeden Fall gilt: Für jeden ist etwas dabei. Was ist es für Sie? Welche Art Spiele bevorzugen Sie? Nicht, dass ich darauf jetzt eine Antwort erwarte, denn Geschmack ändert sich, so wie die Umstände ändern: Zeit, Spielekreise, Familienstand … noch mehr!? Davon hängt ab, ob man Cosims, Strategiespiele … oder eher die einfachen Spiele bevorzugt, sich über oder auf dem Level der grauen, roten oder blauen Auszeichnungen der Jury bewegt. Die Jury ist da wirklich ein guter Maßstab für den eigenen Standort, wo man sich selbst in der Szene sieht.

Natürlich berücksichtigen wir diese unterschiedlichen Geschmäcker in der Fairplay, bewegen uns mit unserem Magazin schon immer auf oder oberhalb des Niveaus der Jury. Aber seien wir ehrlich, bestimmte Arten von Spielen kommen auch bei uns nie oder nur sehr selten vor. Cosims sind schon seit jeher – jedenfalls bei uns in „Merry old Germany“ – eher das Lieblingskind einer sehr speziellen Spielergattung. Manchmal schreibt jemand unserer Mitarbeiter darüber, wenn es dessen Umstände zulassen. Die Redaktion hält sich dann gerne zurück. Ich würde sowas ja auch spielen, aber Cosims sind eher „einmalige“ Spiele. Wie SCHACH oder GO oder DOPPELKOPF … die nur intensiv spielt, wer dafür feste Mitspieler hat und sonst auf nix anderes Lust verspürt. Das ist dann doch nix für mich.
Meine Knechte und ich sind da eher wie Reisende, die hier und dort möglichst gut spielen wollen. Wir reisen umher, sind deshalb irgendwie auch unstet. Selten, dass wir länger bei einem Spiel verweilen. Zu reizvoll ist das Neue, was von überall her auf uns hereinströmt. Wie von einem guten Reiseführer erwarte ich auch von den Tipps guter Freunde lohnende Hinweise, was in der Spielewelt an interessanten Sachen geboten werden. Wohin geht die Reise, was ist dort toll? Wir erkunden natürlich oft auf eigene Faust die Spielewelt, mitunter erleiden wir sogar Schiffbruch. Unsere Erfahrungen und Tipps teilen wir gerne mit Ihnen.

Ich bin tatsächlich immer noch skeptisch, was Bewertungen aus Online-Portalen angeht. Was weiß denn ich, wer da aus welcher Motivation was zeigt oder schreibt. Vine-Rezensionen bei amazon oder Product Placement auf youtube fördern nicht gerade die Glaubwürdigkeit des Netzes. Oder muss man das nur zu nehmen wissen?

Ach ja: Raue Spielwelt. Im Netz geht es ja des Öfteren recht unangenehm zu, weil die Diskussionen mitunter hart und sehr persönlich geführt werden. Irgendwo steht immer einer auf, dem dies oder das so nicht passt. Dann gilt nur, was zu der eigenen Peergroup passt oder eigene Befindlichkeiten nicht tangiert. Leider ist der Maßstab im Netz oft verschoben. Man sollte schon mal hinterfragen, wo man steht und welchen Anspruch man hat. Und ob der Blick nicht doch durch die eigene Brille verengt wird. Deshalb sollte man sich auch nicht gleich jeden Schuh anziehen, der einem offensichtlich oder nur vermeintlich passt. Womöglich denkt dann doch wer, dass er passgenau sitzt.

Und noch was fällt auf: Die Szene untergliedert sich immer mehr. Für jede Zielgruppe gibt’s irgendwo einen Kristallisationspunkt. Wenn man weiß wo, findet man seine ganz eigene Heimat unter Gleichgesinnten. Oder weiß zumindest, wo man ganz gewiss nicht hingehört. Im Netz wird schließlich stark gesiebt. Ob das gut ist? Nur sollte man nicht glauben, dass es außerhalb des eigenen Dunstkreises nicht auch schätzenswerte Meinungen gibt. Ein bisschen Toleranz täte uns allen ganz gut. Und auch ein gemeinsamer Kristallisationspunkt wäre toll. Für die englischsprachige Welt gibt’s das ja bereits. Auf boardgamegeek ist der Umgang bei allen Abstrichen eher verbindend als kleinstaaterisch deutsch.

In diesem Sinne

Ihr Harry

2 Kommentare zu „Editorial 115“

  1. Schade, nach dem letzten Editorial hätte ich mir mehr gewünscht als den Ruf nach mehr Toleranz. Wer im Glashaus sitzt muss sich nicht wundern, dass die Leute draußen auch mal mit Steinen werfen…

  2. Ich habe nie verstanden, warum die Komplexität der Regeln, die Spieldauer oder die Fülle an Spielmaterial ein Kriterium für die Güte eines Spieles sein soll. Insofern sind sog. Kennerspiele nicht per se auf einem höheren Level. Manchmal hat man eher das Gefühl, dass die Kenner eher die Güte der Spiele früherer Jahrgänge verkennen. Darin unterscheiden sich diejenigen, die Spiele-Reisenden nicht von den kritiklosen Spiele-in-die-Kamera-Haltern. Mir sind da die Spiele-Flaneure lieber.

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